Weiterhin psychotherapeutische Mangelversorgung in der Psychiatrie

BPtK: G-BA-Reform ist patientenmissachtend

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) kritisiert die Entscheidung zur Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik als patientenmissachtend. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) scheitert an einer Reform, die dringend notwendig war, um die Patienten in den Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen nach modernen Standards ausreichend und sachgerecht zu versorgen. „Der G-BA nimmt in Kauf, dass Patienten nicht die Behandlung bekommen, die sie benötigen“, kritisiert Dr. Dietrich Munz. „Auf den Stationen wird es weiter zu vermeidbarer Gewalt und Zwangsmaßnahmen kommen, da Patienten in psychischen Krisen nicht angemessen behandelt und ausreichend betreut werden können. Das Ergebnis der G-BA-Beratung ist angesichts dieser seit Jahren bekannten Personalmängel und Behandlungsdefizite beschämend.“ Die BPtK fordert deshalb von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, den G-BA-Beschluss zu beanstanden.

Nach fast fünfjähriger Beratungszeit hat der G-BA heute Mindestanforderungen an die Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik beschlossen. Er schreibt damit aber nur die Regelungen der fast 30 Jahre alten Psychiatrie-Personalverordnung fort. Eine nachhaltige Erhöhung des Personals, insbesondere mehr Pflegende und mehr Psychotherapeuten, wird es nicht geben. „Die Fortsetzung der psychotherapeutischen Mangelversorgung der Patienten vor allem in der Psychiatrie ist unverantwortlich“, kritisiert BPtK-Präsident Munz. „Der G-BA ist an seinem gesetzlichen Auftrag, eine leitlinienorientierte Versorgung in Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen umzusetzen, kläglich gescheitert.“

Die Standards der überholten Psychiatrie-Personalverordnung führen inzwischen zu Fehlbehandlungen, weil Patienten keine fachgerechte Psychotherapie erhalten. Patienten der Allgemeinpsychiatrie erhalten danach in der Regel- und Intensivbehandlung nur maximal eine halbe Stunde Einzelpsychotherapie pro Woche. Das betrifft 73 Prozent der Patienten, die in der Psychiatrie behandelt werden. In anderen Bereichen, z. B. der Gerontopsychiatrie, erhalten sie noch weniger Psychotherapie. Mit den neuen Personalvorgaben bekommen Patienten künftig 50 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche. „Schwer kranke Menschen erhalten allerdings bereits in der ambulanten Versorgung mehrere Stunden Einzeltherapie“, erklärt BPtK-Präsident Munz. „In den psychiatrischen Krankenhäusern, die gerade eine intensivere Behandlung von psychisch kranken Menschen ermöglichen sollen, bleibt damit die Versorgung mehr als mangelhaft.“ Die BPtK fordert mindestens 100 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche für alle Patientengruppen in allen Behandlungsbereichen.

Die BPtK kritisiert seit Langem, dass in der Psychiatrie keine leitliniengerechte Versorgung der Patienten möglich ist. Dafür muss ein grundsätzlich neues Modell zur Berechnung der Personalausstattung in diesen Kliniken entwickelt werden. Maßgeblich ist, dass der Behandlungsbedarf verschiedener Patientengruppen anhand objektiver, nachvollziehbarer und überprüfbarer Kriterien festgelegt wird. Es muss klar sein, nach welchen Kriterien, z. B. Diagnose, psychosoziale Einschränkungen, somatische Komorbiditäten, Patienten klassifiziert werden und welcher Leistungsanspruch für sie damit verbunden ist. Die Krankenhäuser müssen die Kosten für das so berechnete Personal in den Budgetverhandlungen verbindlich berücksichtigen können. Im Gegenzug sollten die Krankenhäuser verpflichtet werden, Transparenz darüber herzustellen, welche Behandlungsleistungen mit dem vereinbarten Personal realisiert wurden. Die BPtK spricht sich dafür aus, dass der G-BA dazu gesetzlich verpflichtet wird, ein solches Modell zu entwickeln.

Quelle: www.bptk.de vom 20.09.2019

Neues Disease-Management-Programm bei Depressionen, kein Screening auf Depression

Patientinnen und Patienten mit chronischen Depressionen oder wiederholt auftretenden depressiven Episoden von mittlerer bis schwerer Ausprägung können sich künftig im Rahmen eines Disease-Management-Programms (DMP) behandeln lassen. Auch Menschen, die neben körperlichen Erkrankungen zudem an einer psychischen Erkrankung leiden, können in das DMP aufgenommen werden. Tritt die Depression jedoch als Folge einer körperlichen Grunderkrankung auf, soll eine Einschreibung in das DMP nicht möglich sein.

Die inhaltlichen Anforderungen für das neue strukturierte Behandlungsprogramm hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seiner Sitzung am 15. August 2019 beschlossen. Vor dem Start muss der Bundesgesundheitsminister dem Beschluss zustimmen.

Zentrale Säulen Psychotherapie und Psychopharmaka

Das Disease-Management-Programm gründet auf einer leitlinienorientierten Behandlung mit Psychotherapie und medikamentöser Therapie. Die konkreten The­rapieempfehlungen richten sich insbesondere nach Verlauf und Schweregrad der Depression unter Berücksichtigung komorbider körperlicher und psychischer Erkrankungen. Auch das Vorgehen bei Suizidalität und Maßnahmen des Krisenmanagements werden im DMP adressiert. Zudem soll Patientinnen und Patienten, die aus fachlicher Sicht davon profitieren können, ein evaluiertes digitales Selbstmanagementprogramm unter qualifizierter Begleitung ermöglicht werden. Alternativ können evaluierte Präsenzschulungen angeboten werden. Die Langzeitbetreuung und Koordination der Behandlung soll durch die Hausärztin/den Hausarzt erfolgen. In Ausnahmefällen können spezialisierte Leistungserbringer wie Fachärztinnen bzw. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie diese Aufgabe übernehmen.

PTK NRW fordert stärkeren Einbezug der Profession

Die Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) begrüßt, dass der G-BA ein strukturiertes Behandlungsprogramm bei Depressionen auf den Weg gebracht hat, denn der Bedarf ist unumstritten. Kritisch sieht die Kammer allerdings, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht als DMP-Koordinatoren zugelassen sind und Patientinnen und Patienten sich bei ihnen nicht in das Behandlungsprogramm einschreiben können. „Die Profession spielt bei der Behandlung von Depressionen eine wesentliche Rolle und muss bei der Umsetzung eines Disease-Management-Programms stärker berücksichtigt werden – aus fachlicher Sicht ebenso wie im Sinne der Patientinnen und Patienten“, fordert Kammerpräsident Gerd Höhner.

Sinnvoll sei hingegen, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Fachärztinnen und Fachärzte systematisch in den Behandlungsverlauf eingebunden werden sollen. Zeigt sich nach sechs Wochen hausärztlicher Behandlung keine ausreichende Besserung, soll die Hausärztin/der Hausarzt die Überweisung in eine psychotherapeutische Praxis oder eine entsprechend qualifizierte Facharztpraxis prüfen.

Screening auf Depression nicht empfohlen

Des Weiteren beschloss der G-BA in seiner Sitzung am 15. August 2019, ein Screening auf Depressionen nicht in die Gesundheitsuntersuchung für Erwachsene aufzunehmen. Grundlage für diese Entscheidung war ein Bericht des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Im Fazit hatte die Studienauswertung keinen Nutzen durch ein systematisches Screening auf Depressionen gezeigt. Auch dieser G-BA-Beschluss wird nun vom Bundesgesundheitsministerium geprüft.

Quelle: www.ptk-nrw.de vom 27. August 2019

Warum Geschwister für psychisch Kranke so wichtig sind

Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, leidet meist auch das Umfeld. Bruder und Schwester werden dabei häufig übersehen, dabei können sie die Betroffenen unterstützen. Mitunter brauchen sie aber auch selbst Hilfe.

Christopher*, 32, bemerkt beim Geburtstag seines Großvaters sofort, dass mit seinem Bruder etwas nicht stimmt. Sie hatten sich ein paar Monate nicht gesehen. Aufgedreht und ohne Punkt und Komma erzählt der Bruder beim Kaffee von schlaflosen Wochen und zahlreichen Projekten, die er aktuell im Studium stemmt. Er hört auch dann nicht auf zu plappern, als er ohne direkten Gesprächspartner an einem Tisch sitzt und alle anderen Gäste einer Festrede des Onkels lauschen.

„Ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Christopher. Am Ende des Familienfestes spricht er seinen Bruder darauf an und erklärt ihm vorsichtig seine Sorge. Nicht immer verläuft es so positiv, aber der Bruder nimmt seine Bedenken an und geht nach ein paar Tagen von sich aus in eine Klinik.

Dort bestätigt sich Christophers Verdacht: Sein Bruder befindet sich inmitten einer Manie, dem Gegenstück zur Depression. Er braucht dringend professionelle Hilfe. Christopher hat ihn womöglich vor Schlimmerem bewahrt.

Eltern, Kinder und Geschwister leiden mit

Eine psychische Erkrankung trifft fast immer auch die Familie. Die Eltern, die Kinder, und eben auch die Brüder und Schwestern. Im Leben der Betroffenen spielen sie häufig eine große Rolle, sind mitunter wichtigste Ansprechpartner oder – wie Christopher – Ersthelfer in Krisen.

Es gibt Millionen Geschwister in Deutschland, doch als Helfer und zu Stützende werden sie häufig übersehen. Kliniken und Therapieeinrichtungen richten sich mit Gesprächs- und Hilfsangeboten fast ausschließlich an die Mutter und den Vater, selten sehen sie die mit betroffenen Geschwister. Dabei haben diese durchaus Bedarf an Unterstützung.

„Außen vor und doch mittendrin“ heißt eine der ersten Studien, die in Deutschland die Situation von Geschwistern psychisch Erkrankter beschreibt. Die Psychologin Rita Schmid von der Universität Regensburg und ihre Kollegen bezeichnen Geschwister in der Untersuchung von 2004 gar als „vergessene Angehörige“: „Therapeutische Entscheidungen werden in der Regel ohne ihre Einschätzung und Meinung getroffen, obgleich sie den Erkrankten und seinen Erkrankungsverlauf häufig am längsten kennen“, schreiben die Studienautoren. Nicht zuletzt würden solche Entscheidungen oftmals auch Einfluss auf das Leben des gesunden Geschwisters haben.

Von Behandlern missachtet

Eine Untersuchung aus Österreich mit dem Titel „Zu Unrecht vernachlässigt“bestätigt den Befund. Während acht von zehn Eltern von an Schizophrenie Erkrankten zu Angehörigengruppen in einem psychiatrischen Klinikum eingeladen wurden, erhielten nur vier von zehn Geschwistern diese Einladung. Dabei seien die Geschwister eine „subjektiv stark belastete Gruppe“, die stärker beachtet werden sollte, betonten die Studienautoren.

Auch Reinhard Peukert, emeritierter Professor und noch immer Forscher auf dem Gebiet der Gemeindepsychiatrie, will die Rolle von Geschwistern stärken. Er kennt das Problem aus eigener Erfahrung: Als junger Erwachsener erkrankte sein Bruder an Schizophrenie. Jahrelang stand Peukert ihm zur Seite und begleitete ihn. „Es gab viele traurige und bedrückende Erlebnisse, dennoch war es für mich ein enormer Gewinn, sein Bruder zu sein“, sagt Peukert. Die Krankheit habe seine Interessen und sogar seine Berufswahl stark beeinflusst.

Der Bruder nahm sich Jahre später das Leben. Bis heute lässt Peukert das Thema nicht los. Er begleitet seit Jahrzehnten Forschungsprojekte, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. In seinen Untersuchungen berichtet er von Geschwistern, die sich mitunter nicht nur übersehen, sondern von den Behandlern in Kliniken regelrecht missachtet fühlen.

Auch Christopher hat noch nie mit einem Behandler seines Bruders gesprochen, obwohl dieser bereits mehrfach in Kliniken war. Er wäre aber durchaus bereit dazu. Er wirkt zwar oft nur wie ein stiller Beobachter, doch für den kranken Bruder ist er eine wichtige Stütze.

Eine gesunde Stimme mehr im Raum

„Die Geschwister in Behandlungsgesprächen dabei zu haben, ist für alle Beteiligten ein Gewinn“, sagt der Psychologe Thomas Bock vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Gespräche würden nicht wie vielleicht vermutet komplizierter, sondern leichter. „Geschwister katalysieren“, sagt Bock. „Durch sie hat man eine gesunde Stimme mehr im Raum, die deutlich macht, was die üblichen Konflikte der Familie sind, und was durch die Krankheit hinzukommt.“

Zwischen den Geschwistern zeige sich in solchen Familiengesprächen zudem oftmals wertvolle Solidarität und Einvernehmen. Meist lädt Bock zu einem weiteren Gespräch nur den Patienten und sein Geschwister ein: „Diese Gespräche sind oft aufbauend und entlastend – für beide Seiten.“

Die Gesundheitswissenschaftlerin Jacqueline Sin von der University of London geht daher noch einen Schritt weiter. Sie ist davon überzeugt, dass eine organisierte Unterstützung der Geschwister auch den Betroffenen hilft und fordert deshalb eine Art psychologischen Lehrgang für Geschwister.

Erschöpft oder depressiv durch Krankheit des anderen

Reinhard Peukert will vor allem, dass Geschwister Rückhalt bekommen. Zu diesem Zweck hat er ein Geschwisternetzwerk gegründet, das auch ein Online-Selbsthilfeforum anbietet. „Wir wollen die Erfahrungen von Geschwistern stärker ans Licht der Öffentlichkeit und ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen“, erklärt er. Auch sollen mehr Selbsthilfegruppen aus dem Netzwerk hervorgehen, denn bislang gibt es davon bundesweit nur eine Handvoll.

Viele betroffene Geschwister brauchen dringend Gespräche und Austausch, denn die Erkrankung des anderen bringt auch die eigene seelische Verfassung ins Wanken, wie eine weitere Studie der Regensburger Psychologin Rita Schmidoffenbart: Zwei von drei Menschen leiden demnach unter seelischen Problemen, wenn der Bruder oder die Schwester psychisch erkrankt. Viele litten unter Schlafstörungen, seien erschöpft, oder depressiv verstimmt.

Die Gründe sind vielfältig: Je nachdem, wie intensiv die Beziehung ist, verlieren Geschwister mitunter einen wichtigen Lebensgefährten. Sie haben Angst um den anderen, manchmal schämen sie sich oder werden wütend. Bei vielen sitzt der Schock tief.

Drei von vier psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr, also in Kindheit, Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter. Die Geschwister sind häufig in einem ähnlichen Alter, in dem sich die Folgen der Krankheit meist stark ausprägen. Besonders junge Geschwister brauchen Erklärungen dafür, was mit ihrem Bruder oder der Schwester geschieht. Gerade junge Kinder suchen die Schuld auch bei sich. War ich zu forsch beim Spielen mit dem Bruder? Hab ich die Schwester zu sehr geärgert?

Ältere Geschwister hingegen fühlen sich oftmals aus einem anderen Grund schuldig: weil sie gesund sind. Forscher sprechen von der sogenannten Überlebensschuld, weil dieses Gefühl mitunter auftritt, wenn Menschen Unfälle oder Katastrophen überleben, bei denen andere gestorben sind. Sie fragen sich: Warum meine Schwester, warum mein Bruder, warum nicht ich?

Christopher war gut informiert, als sein Bruder erkrankte, er hatte selbst Psychologie studiert. Die seelische Notlage des Bruders konnte er daher sofort erkennen – und richtig handeln.

Quelle: www.spiegel.de vom 16.02.2019

Mangelverwaltung schulischer Probleme

Ein Schulpsychologe für knapp 7000 Schüler – das ist der mickrige Schnitt in Deutschland. Eine ausreichende Unterstützung von Kindern, Eltern und Lehrkräften ist da kaum möglich. Und in einigen Bundesländern ist es noch schlimmer.

Das Dezernat „Schulpsychologie“ residiert in einem modernen, schmucklosen Bürokomplex am Lüneburger Bahnhof. Weiße Raufasertapete, eine Fensterfront mit Blick auf einen Parkplatz. Der frische Kaffee ist inzwischen kalt geworden, so lange braucht Achim Aschenbach, um seine ganzen Aufgaben als Schulpsychologe zu erklären.

Aschenbach ist Ansprechpartner für Eltern und Kindern mit Schulproblemen, die von schlechten Noten bis zu Schulangst reichen. Er bildet Lehrkräfte fort und berät Schulen. Und er ist Teil eines niedersächsischen Notfallteams, das gerufen wird, wenn Schüler plötzlich versterben oder ein schwerer Unfall eine gesamte Schule aus ihrem Trott reißt.

Auch die Supervision für Sozialarbeiter und die Ausbildung von Beratungslehrern fallen in seinen Aufgabenbereich. „Jeder von uns ist für einen Teil von Niedersachsen zuständig. In unserer Region sind wir viel unterwegs und unterstützen die Schulen und Pädagogen vor Ort. Zusätzlich sind wir für Beratungen und Sprechstunden im Büro erreichbar“, erklärt Achim Aschenbach.

Mehr als Mangelverwaltung kaum möglich

Eine beeindruckende Aufgabenvielfalt – denn in Niedersachsen ist ein Schulpsychologe für etwa 15.000 Schüler und 1000 Lehrkräfte zuständig. Das geht aus den aktuellen Zahlen des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hervor. Im Bundesschnitt sind es „nur“ rund 7000 Schülerinnen und Schüler und etwa 450 Lehrkräfte.

Einzig in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen ist die Quote mit etwa 1 zu 4500 etwas besser. Zum Vergleich: In Dänemark betreut ein Schulpsychologe etwa 800 Schüler. Mehr als Mangelverwaltung ist in Deutschland deshalb kaum möglich, an eine langfristige Begleitung von verhaltensauffälligen Kindern oder gestressten Lehrkräften ist kaum zu denken.

Schulen, Lehrkräfte und Eltern spüren den Mangel deutlich. Erstgespräche finden zwar innerhalb weniger Tage statt. Ein schnelles Eingreifen ist aber nur in sehr dringlichen Fällen möglich – Mobbing, Gewalt, Schulvermeidung oder eine Suizidandrohung. Wer mit Fragen rund um schlechte Noten, Lernschwierigkeiten oder einer Schullaufbahnberatung auf die Schulpsychologen zukommt, muss Geduld mitbringen.

Wartezeiten von mehreren Wochen oder gar Monaten sind keine Seltenheit. Gleiches gilt auch für Schulen auf der Suche nach Fortbildungen und Beratung. „Umso größer ist die Verantwortung der schuleigenen Hilfsangebote, Sozialpädagogen, Vertrauenslehrern, das offene Ohr des Klassenlehrers“, erklärt Kirsten Schuchardt. Als Forscher am Institut für Psychologie an der Uni Hildesheim ist sie für die Weiterbildung von Beratungslehrkräften zuständig.

Gerade bei „kleineren“ Problemen wie Schulstress, Streitigkeiten unter Schülern oder Prüfungsängsten sind die Beratungslehrer immer häufiger gefragt. Gleichzeitig können und dürfen diese Beratungsangebote keine Ausrede für zu wenige Schulpsychologen sein. „Es gibt genug Fälle, in denen die Pädagogen vor Ort an ihre Grenzen stoßen – schweren Formen von Mobbing, sexueller Gewalt oder Suizidandrohungen. Hier ist die psychologische Unterstützung dringend nötig“, sagt Schuchardt. Dazu komme, dass längst nicht alle Schulen ausreichend mit Sozialpädagogen und Beratungslehrern ausgestattet sind.

Der Mangel an Schulpsychologen bedeutet natürlich nicht automatisch, dass Kinder und Jugendliche im Ernstfall ohne psychologische Unterstützung dastehen. Schließlich gibt es auch noch andere Anlaufstellen und Hilfsangebote – Therapeuten, Psychiater oder Beratungsstellen für Gewalt.

Doch die Zahl der Probleme, die die Unterstützung durch Schulpsychologen nötig macht, hat an den Schulen stark zugenommen. „Es gibt grundlegende Probleme, die Schule schon lange beschäftigen – Schulangst, Gewalt oder auch Mobbing. Verändert haben sich aber die Rahmenbedingungen und die Intensität“, bestätigt Achim Aschenbach.

So sorgt die Digitalisierung für mehr Fälle von Cybermobbing oder Spielsucht. Auch der Umgang mit Kindern mit traumatischen Fluchterfahrungen oder verschiedenen Formen von Behinderung stellen die Lehrer vor neue Herausforderungen. Dazu komme der hohe Erwartungsdruck innerhalb des Bildungssystems.

Immer mehr Lehrkräfte, aber auch Schüler fühlen sich gestresst, überfordert und hadern mit den Rahmenbedingungen von Schulen. Das Thema „Psychische Gesundheit“ gehört längst mit zum Aufgabenbereich der Schulpsychologen. Therapeutische Aufgaben innerhalb der Schulen übernehmen sie allerdings nicht. Stattdessen arbeiten sie „systemisch“.

Was das konkret bedeutet, erklärt Cornelia Heinz von der Landesstelle Schulpsychologie und schulpsychologisches Krisenmanagement Nordrhein-Westfalen: „Wenn ein Schüler kurz vor dem Abschluss mit extremer Prüfungsangst zu mir kommt, ist es meine Aufgabe, nach schulischen Lösungen zu suchen und ihn zu stabilisieren.“ Wenn Depressionen im Spiel sind, verweist die Psychologin an Therapeuten.

Auch in der Schule arbeiten Heinz und ihre Kollegen eher im Hintergrund. Sie sprechen mit Lehrkräften und Eltern, klären auf oder helfen bei der Entwicklung von Präventionskonzepten. „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautet die Strategie – aus gutem Grund, wie die Psychologin erklärt: „Bei einem Mobbing-Fall bringt es wenig, wenn ich mich für einen Vortrag vor die Schüler stelle. Die Pädagogen vor Ort kennen die Klasse und ihre Sozialstruktur viel besser. Diese Beziehungsebene ist wichtig, um eine Lösung für das Problem zu finden.“

Kaum Ressourcen für Prävention

Dazu kommt: Schulpsychologen fehlen schlicht die Ressourcen, um einen solchen Prozess länger zu begleiten. Oftmals bleibt es deshalb bei allgemeinen Fortbildungen zu Strategien gegen Mobbing, Wegen für ein besseres Schulklima oder der Burnout-Prävention. Ihre Umsetzung ist am Ende die Aufgabe der Pädagogen vor Ort.

„Es geht nicht darum, auch noch therapeutische und beraterische Verantwortung auf die Lehrkräfte abzuwälzen. Sie sollten aber offen auf Schüler zugehen, Gesprächsangebote machen und sich eben Hilfe holen, wenn sie spüren, dass es nicht stimmt“, sagt Cornelia Heinz. Der geschulte Blick auf die Schülerschaft ist für die tägliche Arbeit der Schulpsychologen immens wichtig. Ohne aufmerksame Pädagogen vor Ort würden sie von den meisten Fällen nichts erfahren. Und ohne das Engagement einzelner Schulen wäre eine Präventionsarbeit überhaupt nicht möglich.

Aus Sicht von Kirsten Schuchardt ist das keine Dauerlösung. „Es braucht mehr Stellen für Sozialarbeiter und Schulpsychologen, um schneller reagieren zu können, um näher an den Schulen zu sein“, erklärt die Forscherin der Uni Hildesheim.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht immerhin: In Nordrhein-Westfalen sollen Cornelia Heinz und ihre Kollegen bald mehr Unterstützung bekommen. Die Landesregierung diskutiert zurzeit über die Schaffung von 100 neuen Stellen für Schulpsychologen.

Der Sinneswandel kommt nicht ganz freiwillig. Nach dem Anstieg von Gewaltdelikten an Schulen in den vergangenen beiden Jahren war der Handlungsdruck auf die Landesregierung deutlich gewachsen.

Quelle: www.spiegel.de vom 16.07.2019

Kindergeld & Co.: Was Eltern in Deutschland zusteht

Staatliche Leistungen für Kinder gibt es viele in Deutschland – vom Kindergeld bis zum Kinderzuschlag. Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach.

Kindergeld und Kinderfreibeträge

Eltern bekommen auf Antrag monatlich mindestens 194 Euro Kindergeld vom Staat (ab 1. Juli 204 Euro) – und zwar so lange, bis die Kinder 18 sind oder bis sie ihre Ausbildung beendet haben, maximal aber bis 25 Jahre. Wer viel verdient, für den lohnt sich eher der Kinderfreibetrag (7.620 Euro pro Kind). Der Betrag wird vom zu versteuernden Einkommen abgezogen, so vermindert sich die zu zahlende Steuer. Der Computer im Finanzamt macht bei der Steuererklärung eine automatische sogenannte Günstigerprüfung und entscheidet, ob sich das Kindergeld oder der Freibetrag für die Eltern mehr rechnet.

Elterngeld

Elterngeld bekommen Mütter und Väter, wenn sie nach der Geburt des Kindes erst einmal gar nicht oder nur noch wenig arbeiten wollen. Der Staat unterstützt das mit mindestens 300 Euro und maximal 1800 Euro im Monat – abhängig vom Netto-Verdienst, das der zu Hause bleibende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte. Das Elterngeld wird maximal 14 Monate lang gezahlt, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen. Die Zahlungsdauer kann auch weiter gestreckt werden (ElterngeldPlus). Dafür sind die monatlichen Zahlungen dann kleiner.

Kinderzuschlag

Kinderzuschlag zahlt der Staat auf Antrag an Familien, deren Einkommen zwar niedrig ist, aber über Hartz-IV-Niveau liegt. Maximal 170 Euro pro Kind (ab 1. Juli 185 Euro) und Monat gibt es. Der Betrag wird gemeinsam mit dem Kindergeld überwiesen.

Kinderregelsatz

Der Hartz-IV-Satz für Kinder und Jugendliche. Der Staat zahlt für den Nachwuchs, der in Hartz-IV-Familien lebt, pro Person monatlich zwischen 245 Euro (für die Kleinsten) und 339 Euro (für junge Erwachsene bis 25, die keine Arbeit haben und noch zu Hause leben).

Bildungs- und Teilhabepaket

Diese Leistung ist ebenfalls für Kinder und Jugendliche aus Geringverdiener- und Hartz-IV-Familien gedacht – sowie für Kinder aus Familien, die anerkannte Asylbewerber sind. Über das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket gibt es finanzielle Unterstützung für Tagesausflüge, das Mittagessen in Schule oder Kita, für Musikunterricht oder Beiträge zum Sportverein. Wie Familien an diese Leistungen kommen, ist in den Kommunen unterschiedlich geregelt.

Mutterschaftsgeld

Werdende Mütter, die Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind, bekommen ab 6 Wochen vor bis 8 Wochen nach der Geburt (innerhalb der sogenannten Mutterschaftsfristen) Mutterschaftsgeld. Das Geld ist so hoch wie der durchschnittliche Nettolohn der letzten drei Monate vor Beginn des Mutterschutzes.

Weitere steuerliche Förderung

Familien mit Kindern werden vom Staat außerdem durch verschiedene Steuererleichterungen gefördert. Das muss aber in der Steuererklärung auch geltend gemacht werden. So können Kita-Beiträge und andere Kinderbetreuungskosten sowie Kosten für die Krankenversicherung der Kinder angegeben werden, um Steuern zu sparen.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 21.06.2019

„Hikikomori“ – warum isolieren sich manche Teenager monatelang selbst?

„Hikikomori“ (Rückzug) ist ein japanischer Begriff, der Menschen beschreibt, die sich für viele Monate oder Jahre in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer zurückziehen und zu anderen Menschen – außer ihrer Familie – den Kontakt meiden.

Das Phänomen wurde in den letzten Jahren in vielen Artikeln in den Mainstream-Medien beschrieben. Bisher ist es aber noch nicht gut erforscht und Psychologen rätseln über dieses Phänomen.

Die Erkrankung wurde erstmals in Japan beschrieben, seitdem wurde jedoch auch über Fälle in anderen Ländern berichtet, die weit voneinander entfernt liegen, wie in Oman, in Indien, in den USA und in Brasilien. Niemand weiß, wie viele „Hikikomori“ es gibt (der Begriff bezieht sich sowohl auf den Zustand als auch auf die Personen, die damit zu tun haben), aber Umfragen zufolge erfüllen 1,79% der Japaner im Alter von 15 bis 39 Jahren die Kriterien. Obwohl es einige Theorien zu Risikofaktoren gibt, die größtenteils auf Berichten von Einzelfällen beruhen, mangelte es an populationsbasierter Forschung. Eine aktuelle Studie, die in „Frontiers in Psychiatry“ veröffentlicht wurde, schließt nun einige Wissenslücken.

Roseline Yong und Kyoko Nomura analysierten Umfragedaten von 3.287 männlichen und weiblichen Teilnehmern im Alter von 15 bis 39 Jahren, die zufällig aus 200 verschiedenen Stadt- und Vorortgemeinden in ganz Japan ausgewählt wurden und einen Querschnitt der japanischen Gesellschaft repräsentierten.

Die Teilnehmer beantworteten Fragen wie, wie oft sie ihr Zuhause verlassen hätten (und für diejenigen, die dies nicht taten, wie lange sie zuhause geblieben wären). Die Forscher stuften diejenigen als Hikikomori ein, die in den letzten sechs Monaten ihre Wohnung nicht oder nur selten verlassen haben, es sei denn, sie hatten einen praktischen Grund für ihren Aufenthalt, z. B. schwanger zu sein, als Hausfrau/mann überwiegend mit Hausarbeiten beschäftigt zu sein oder aufgrund einer Schizophrenie mehr zuhause zu bleiben. Die Befragten beantworteten auch demografische Fragen und Fragen zu ihrer psychischen Gesundheit.

Es wurde vermutet, dass Hikikomori in erster Linie ein städtisches Phänomen ist. Aber das konnten Yong und Nomura nicht bestätigen. Basierend auf den Umfragedaten waren 1,8% der Befragten Hikikomori, aber die Betroffenen waren ähnlich häufig im Dorf wie in einer Großstadt ansässig. Die bisherige Annahme, dass die Erkrankung häufiger bei Männern anzutreffen ist, konnte in diese Studie mit epidemiologischen Daten belegen. Dennoch waren 20 der 58 „Hikikomori“ in der Studie weiblich.

Yong und Nomura fanden keine Beziehung zur Region des Landes, zur Anzahl der Familienmitglieder oder zur sozialen Schicht. Eine lokale demografische Variable erwies sich jedoch als schützend: das Leben in einem Gebiet voller Unternehmen und Geschäfte.

Die Hikikomori in der Stichprobe hatten häufig eine psychiatrische Behandlung in ihrer Vorgeschichte, hatten oft die Schule abgebrochen und neigten zu Gewalt gegen sich selbst (z. B. Selbstverletzung), aber nicht gegen andere. Der wichtigste und stärkste Faktor war jedoch ein hohes Maß an zwischenmenschlichen Schwierigkeiten. Dies zeigte sich bei den häufig angekreuzten Angaben, wie: „Ich habe Angst, Leute zu treffen, die ich kenne“, „Ich bin besorgt darüber, was andere über mich denken könnten“ und „ich kann mich nicht in Gruppen einordnen“.

Yong und Nomura schreiben: „Diese Ängste können mit einem Gefühl der Demütigung zusammenhängen, das darauf hindeutet, dass sie Angst haben, in ihrer aktuellen Situation gesehen zu werden. […] Im Gegensatz zu Ängsten, die bei sozialen Phobien auftreten […] zeigen unsere Auswertungen, dass Hikikomori ihnen bekannte Menschen und Gruppen fürchten.“

Dies legt einen möglichen Weg zur Behandlung nahe: „Durch sorgfältige Analyse der Art der Ängste, die sie haben könnten, legen unsere Daten nahe, dass die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten und eine veränderte Erwartungshaltung bei der Bekämpfung von Hikikomori hilfreich sein könnten.“ Sie stellen fest, dass diese Art von Strategie bereits mit einigem Erfolg versucht worden war.

Aber wenn diese Ängste die Menschen in ihren Häusern halten, was veranlasst sie dann überhaupt erst, sich dorthin zurückzuziehen? Die Umfrage ergab auch, dass Hikikomori mit größerer Wahrscheinlichkeit die High School oder die Universität abgebrochen haben. Vielleicht kann die Suche nach Wegen, wie junge Menschen ihre Ausbildung fortsetzen können, das Risiko verringern.
Die Daten zeigten auch, dass ein sehr hoher Prozentsatz (37,9%) der Hikikomori in der Vergangenheit in psychiatrischer Behandlung gewesen war. „Der große Anteil von Hikikomori, die auf Medikamente angewiesen sind, ist ebenfalls alarmierend“, fügen die Forscher hinzu.

Wie all diese Faktoren als Ursachen oder vielleicht Ergebnisse von Hikikomori in Wechselwirkung stehen können, ist alles andere als klar. Wie die Forscher betonen, sind eindeutig weitere Studien erforderlich. Diese neue Arbeit liefert jedoch einige gute Hinweise, auf was sich zukünftige Untersuchungen besonders konzentrieren sollten.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 24.06.2019

Mittagsschlaf verbessert bei Schülern Leistung und Stimmung

Aktuelle Forschungsergebnisse der University of Pennsylvania und der University of California, Irvine, die in der Zeitschrift „Sleep“ veröffentlicht wurden, belegen, dass ein Mittagsschlaf bei Kindern die Schulleistung und die Stimmung verbessern kann.

Eine Studie mit fast 3.000 Schülern der vierten, fünften und sechsten Klasse im Alter von 10 bis 12 Jahren ergab einen Zusammenhang zwischen Mittagsschlaf und größerer Zufriedenheit, Wohlbefinden, Selbstbeherrschung und Durchhaltevermögen; weniger Verhaltensproblemen und höherem IQ, Letzteres besonders bei den Sechstklässlern. Am deutlichsten war der positive Einfluss des Mittagsschlafs auf die schulischen Leistungen, erklärte Adrian Raine, ein Mitautor der Veröffentlichung. „Kinder, die dreimal oder öfter pro Woche ein Nickerchen machen, profitieren von einer Steigerung der schulischen Leistung in der 6. Klasse um 7,6%“, erklärte er.

Schlafmangel und Schläfrigkeit am Tag sind überraschend weit verbreitet, und bis zu 20% aller Kinder sind müde, so der leitende Autor der Studie Professor Jianghong Liu von der University of Pennsylvania. Darüber hinaus sind die negativen kognitiven, emotionalen und physischen Auswirkungen ungesunder Schlafgewohnheiten hinreichend bekannt. Doch die meisten älteren Untersuchungen haben sich auf das Vorschulalter und jüngere Kinder konzentriert.

Das liegt zum Teil daran, dass in vielen Ländern Kinder, wenn sie älter werden, üblicherweise keinen Mittagsschlaf mehr machen. In China ist die Praxis jedoch in das tägliche Leben eingebettet und setzt sich über die Grund- und Mittelschule bis ins Erwachsenenalter fort. Daher nutzten Liu und Raine gemeinsam mit der Penn-Biostatistikerin Rui Feng, der UC Irvine-Schlafforscherin Sara Mednick und anderen die China-Jintan-Kohortenstudie, die 2004 erstellt wurde, um Teilnehmer vom Kleinkindalter bis zum Jugendalter zu beobachten.

Von jedem der 2.928 Kinder sammelten die Forscher Daten darüber, wie oft und wie lange sie einen Mittagsschlaf machten, während die 4., 5. Und 6. Klasse besuchten. Zusätzlich wurden psychologische Daten wie Durchhaltevermögen und Wohlbefinden sowie physische Daten wie Body-Mass-Index und Glukosespiegel erhoben. Die Forscher baten die Lehrer außerdem, Auskunft bezüglich des Verhaltens der einzelnen Schüler und deren akademischen Leistungen zu geben. Anschließend analysierten die Experten, ob es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren und einem Mittagsschlaf gäbe, wobei sie Geschlecht, Klasse, Schulstandort, elterliche Erziehung und Schlafpensum in der Nacht berücksichtigten.

Dies sei die erste umfassende Studie dieser Art, so Mednick. „Zahlreiche Laborstudien über alle Altersgruppen hinweg haben gezeigt, dass ein Mittagsschlaf sich positiv auf die Bewältigung von kognitiven Aufgaben auswirken kann – ähnlich wie genügend Schlaf in der Nacht. Wir hatten die Chance, in der Realität Schüler zu einem breiten Spektrum von Verhaltensweisen zu befragen. […].“

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 05.07.2019

Orthorexie: Wenn gesunde Ernährung zwanghaft wird

Wenn sich jemand fast rund um die Uhr damit beschäftigt, wie er sich am besten gesund ernährt und welche Inhaltsstoffe Nahrungsmittel haben, dann kann dies Ausdruck einer Essstörung sein.

Eine extreme Beschäftigung mit gesundem Essen bezeichnen Experten als Orthorexia nervosa. Obwohl dieses Essverhalten weniger bekannt ist als Anorexia nervosa oder Bulimie – und nicht so gut dokumentiert -, kann Orthorexie laut einer aktuellen Studie auch schwerwiegende emotionale und physische Folgen haben.

„Orthorexie ist wirklich mehr als nur gesunde Ernährung“, erklärte Co-Autorin des Review-Beitrags in der Fachzeitschrift „Appetite“, Professor Jennifer Mills von der York University in Toronto. Betroffenen achten so extrem auf gesunde Ernährung, dass sie im Alltag Probleme haben und sie das Gefühl bekommen, dass ihr Leben außer Kontrolle gerät.

Mills und ihre Kollegin Sarah McComb untersuchten Risikofaktoren und Zusammenhänge zwischen Orthorexie und anderen psychischen Störungen. Orthorexie ist im Gegensatz zu einigen anderen Essstörungen noch nicht als psychiatrische Erkrankung anerkannt.

Übersteigertes Streben nach gesunder Ernährung

Wo die Grenze zwischen gesunder Ernährung und der extremen Form Orthorexie liegt, ist schwer zu definieren. Die Nahrungsmittel, die jemand mit Orthorexie meiden möchte, können die gleichen sein, auf die jemand mit gesunden Gewohnheiten verzichten möchte – wie Konservierungsmittel, alles Künstliche, Salz, Zucker, Fett, Milchprodukte, andere tierische Produkte, genetisch veränderte Nahrungsmittel oder solche, die nicht biologisch sind.

Entscheidend ist, ob das Vermeiden von Lebensmitteln zu Besessenheit führt und zu viel Zeit und Energie kostet, um nachzudenken und sich Gedanken darüber zu machen, was man essen soll. Einige Leute können zahlreiche Kategorien von Lebensmitteln eliminieren und nur eine sehr kleine Anzahl von Dingen essen. Menschen mit Orthorexie sind in der Regel weniger besorgt darüber, Kalorien zu reduzieren als über die „vermeintliche“ Qualität ihrer Lebensmittel.

„Sie verwenden immer mehr Zeit darauf, um über die Lebensmittel zu grübeln, die sie kaufen müssen, insbesondere über Lebensmittel, die es ihnen wirklich schwer machen, ein normales Leben zu führen“, verdeutlichte Lauren Smolar, die an der Studie nicht beteiligt war. Sie ist Programmdirektorin der gemeinnützigen National Eating Disorders Association (NEDA). „Dies kann schließlich zu gefährlicher Unterernährung oder Mangelernährung führen.“
„Eine Person mit Orthorexie kann sich so sehr auf die Zusammenstellung der Nahrungsmittel und deren Zubereitung konzentrieren, dass es unmöglich wird, etwas zu essen, das nicht zu Hause zubereitet wurde. Dies kann in der Folge weitere Probleme nach sich ziehen, wie zum Beispiel Isolation, weil Betroffene nicht bei anderen Menschen zuhause oder in einem Restaurant essen wollen, weil sie Angst haben, dass das Essen nicht nach ihren Vorstellungen zubereitet wurde „, verdeutlichte Mills. Und so können unter Orthorexie Leidende das Gefühl entwickeln, ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben.

Trends können ihre Ängste zusätzlich schüren, so Mills. Mit dem Internet und den sozialen Medien haben die Menschen uneingeschränkten Zugang zu Informationen – einige davon sind gut, andere basieren nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Laut Smolar ist eine Diät einer der häufigsten Auslöser für Essstörungen. Alle Lebensmittel sind in Maßen gut, sagte sie, und eine abwechslungsreiche Ernährung ist am besten.

Beide Geschlechter gleich betroffen

Obwohl viele Essstörungen als vorwiegend weibliches Problem gelten, scheint Orthorexie bei Männern und Frauen gleichermaßen verbreitet zu sein, wie die Studie ergab. Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren oder ein negatives Körperbild haben, sind einem höheren Risiko ausgesetzt.
Für einige ist die zugrunde liegende Ursache eine andere Essstörung, und sauberes Essen wird als ein sozial akzeptabler Weg zur Einschränkung der Kalorien angesehen, ergänzte Mills. Für andere kann sich eine Zwangs- oder Angststörung in der Notwendigkeit äußern, einem sehr starren „Ernährungsplan“ zu folgen.

„Dieser Aspekt ähnelt anderen Zwangsstörungen, bei denen jemand Angst hat, er könnte krank werden oder Keimen ausgesetzt sein, wenn er sich nicht ausreichend die Hände wäscht oder nicht etwas auf eine ganz bestimmte Weise tut“, so Mills.

Hilfe suchen

Orthorexie sollte ernst genommen werden, betonte Mills. Beobachten Eltern bei ihren Jugendlichen ungewöhnliches Essverhalten, sollten sie mit dem Kinder- und Jugendarzt darüber sprechen. Ein Treffen mit einem Kinder- und Jugendpsychologen, der auf Angststörungen, Essstörungen oder Körperbildstörungen spezialisiert ist, könne ebenfalls hilfreich sein, meinte sie.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 08.07.2019

Alkohol: Eltern sollten Jugendliche mit klaren Regeln schützen

Alkohol kann bei Heranwachsenden die Gehirnentwicklung beeinträchtigen und zudem das „Suchtgedächtnis“ früh verfestigen. Deshalb sollten Eltern frühzeitig mit ihren Kindern über die Risiken des Alkohols sprechen und klare Regeln festsetzen.

„In den Teenagerjahren macht das Gehirn noch einmal eine rasante Entwicklung und Umstrukturierung durch. Wenn Jugendliche in dieser Phase häufiger Alkohol konsumieren, kann dies wichtige Bereich des Gehirns negativ beeinflussen, wie z.B. die Gehirnregionen, die für Entscheidungsfindung verantwortlich sind. Menschen, die bereits in jungen Jahren Alkohol trinken, haben ein höheres Risiko, später alkoholsüchtig zu werden. Kinder brauchen deshalb in Bezug auf Alkohol klare Grenzen“, erklärt Dr. Matthias Brockstedt, Suchtbeauftragter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Jugendliche greifen weniger zu Alkohol, wenn Eltern ihnen nicht erlaubten, zuhause „Prozentiges“ zu trinken, und ihnen keinen Alkohol für Partys oder für andere gesellschaftliche Veranstaltungen mitgeben. Das elterliche Vorbild im verantwortlichen Umgang mit alkoholischen Getränken gegenüber ihren 13-/14-Jährigen Kindern ist nachweislich der entscheidende Faktor für deren späteren riskanten Alkoholkonsum.

„Heranwachsende sollten wissen, dass das Gehirn selbst bis zu einem Alter von 21 bis 25 Jahren noch nicht voll entwickelt ist und deshalb besonders empfindlich auf Alkohol reagiert. Denn Teenager, die mit Alkohol negative Vorstellungen verbinden, wie gesundheitliche Schäden, neigen weniger dazu, Alkohol zu trinken, als solche, die damit Positives, wie Entspannung und Freizeit, verknüpfen“, so Brockstedt. Dies sollten ihnen Eltern deshalb auch vorleben und Alkoholkonsum gegenüber Jugendlichen nicht positiv bewerten. Alkoholkonsum im Jugendalter kann sich zudem negativ auf die Schulleistungen auswirken. Neurokognitive Defizite in den Bereichen der Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung, des Gedächtnisses und der Verhaltenskontrolle treten Beobachtungen zufolge häufiger bei Jugendlichen auf, die Alkohol trinken, als bei Jugendlichen, die abstinent sind. Wer mit 12 Jahren oder jünger zum ersten Mal zum Alkohol greift, hat laut einer amerikanischen Langzeitstudie ein Risiko von 40,6% alkoholabhängig zu werden – im Vergleich zu Heranwachsenden, die mit 18 Jahren erste Erfahrungen mit Alkohol sammeln oder erst mit 21 Jahren; sie haben nur noch ein Risiko von 7,8% bzw. 4,8% für Alkoholsucht.

Familien sowie Kinder- und Jugendärzte können zusammenarbeiten, um Grenzen und Erwartungen für Jugendliche festzulegen, ihnen gesunde Bewältigungsstrategien zu zeigen und ihnen dabei zu helfen, sich gegen den negativen sozialen Druck von manchen Gleichaltrigen zu wehren. Die Jugendvorsorgeuntersuchungen J1 und J2 bieten dazu eine gute Gelegenheit.

Positives Beispiel Island

Island ist eines der besten Beispiele dafür, wie das Verhalten der Jugend geändert werden kann, indem ihr Lebensumfeld so gestaltet wird, dass sie ein geringeres Risiko für Substanzmissbrauch haben. In Island bestärkte die Politik möglichst viele Faktoren, die vor frühem Alkoholkonsum schützen: Förderung von Eltern bzw. Elternorganisationen und Berufsgruppen im Kampf gegen Drogen und Drogenkonsum, Schaffung schulischer Kampagnen, Unterstützung außerschulischer Aktivitäten sowie Sport u.a. durch finanzielle Hilfen („Freizeitkarten“ für Kinder und Jugendliche) usw. Der Zugang zu Alkohol wurde Jugendlichen erschwert (bis 20 Jahre kein Erwerb von Alkohol erlaubt) und Werbung verboten. 2018 war der Anteil der Heranwachsenden in Island, die sich im vergangenen Monat betrunken hatten, auf 5% gesunken. 1998 traf dies noch für 42% der Altersgruppe zu. In Deutschland gaben noch 13,6% der 12- bis 17-Jährigen bei einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2018 an, im letzten Monat einen Rausch gehabt zu haben. 
Zwar nimmt in Europa insgesamt der Alkoholkonsum bei Jugendlichen ab, doch ist Island das einzige Land, das einen so deutlichen Erfolg erreichen konnte.

Brockstedt wünscht sich für Deutschland ein ebenso breit aufgestelltes Maßnahmenpaket von Bund, Ländern und Gemeinden. Das nachweislich wirksame Werbeverbot für Alkohol- und Tabakprodukte und der erschwerte Zugang zu alkoholischen Getränken über Jugendschutzgesetz und Steuern würde er gerne mit der/dem nach der Sommerpause neu zu berufenden Bundesdrogenbeauftragten in Angriff nehmen. 

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 10.07.2019

Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen vorbeugen: Neues Onlineangebot der BZgA informiert

Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie weitere Lebensstilfaktoren sind entscheidend, um Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen vorzubeugen. Mit dem neuen Angebot www.uebergewicht-vorbeugen.de bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Eltern und Fachkräften wissenschaftlich fundierte Informationen, wie sie den Nachwuchs unterstützen können, gesunde Verhaltensweisen zu erlernen und diese zu Gewohnheiten werden zu lassen.

Dr. med. Heidrun Thaiss, Leiterin der BZgA, betont: „Rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind übergewichtig. Das kann schon früh fatale gesundheitliche Folgen haben. Im Vergleich zu gleichaltrigen normalgewichtigen Kindern leiden sie beispielsweise häufiger an orthopädischen Störungen, an Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder sogar Diabetes mellitus Typ 2. Damit die Gesundheit im Kindes-, Jugend- und später auch im Erwachsenenalter nicht entscheidend negativ geprägt wird, kommt der Prävention von Übergewicht bei Heranwachsenden deshalb besondere Bedeutung zu. Auf der neuen Internetseite der BZgA erfahren Eltern und Fachkräfte, wie sie Kinder und Jugendliche dabei unterstützen können, der Entwicklung von Körpergewicht vorzubeugen.“

Die Internetseite www.uebergewicht-vorbeugen.de der BZgA gibt Empfehlungen zum Bewegungs-, Ess- und Trinkverhalten, zur Entspannung sowie zur Nutzung von Online-Medien. Darüber hinaus erfahren Familien, wo sie bei bereits bestehendem Übergewicht Hilfe für ihre Kinder und Jugendlichen finden können.

Auch Fachkräften bietet das Onlineportal unterstützende Informationen: Eine Sammlung von Bewegungsübungen, anschaulichen Infografiken und kurzen Themenblättern steht zum Herunterladen und Ausdruck bereit. Sie können zum Beispiel im Beratungsgespräch Eltern an die Hand gegeben werden. Zudem finden Fachkräfte im Portal ein Online-Tool, den sogenannten Methodenfinder. Er hilft passende Übungen, zum Beispiel zu Bewegung oder Entspannung, auszuwählen. Wer in seinem Arbeitsfeld ein Programm zur Vorbeugung von Übergewicht anbieten möchte, kann auch zur Qualitätssicherung direkt auf den Leitfaden der BZgA für die Planung, Umsetzung und Bewertung von gesundheitsfördernden Maßnahmen zugreifen.

Weitere Informationen unter: www.uebergewicht-vorbeugen.de

Quelle: Pressemitteilung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vom 10.7.2019