Schuppenflechte: Nicht nur ein Problem der Haut

Schuppenflechte bzw. Psoriasis beginnt bei einem Drittel der Patienten bereits im Kindes- und Jugendalter.

“Die Diagnose Schuppenflechte bedeutet nicht nur, dass Betroffene eine sorgfältige Hautpflege einhalten sollten, sondern auch dass sie ein erhöhtes Risiko für bestimmte andere Erkrankungen haben, wie Übergewicht, Zuckererkrankung, erhöhte Blutfettwerte, Gelenkentzündungen und auch für psychische Erkrankungen. Deshalb sind regelmäßige Arztbesuche und Kontrollen für diese Kinder und Jugendlichen besonders wichtig“, verdeutlicht Prof. Dr. Hans-Jürgen Nentwich, Kinder- und Jugendarzt sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Kinder mit Psoriasis sind Studien zufolge etwa dreimal häufiger von zu viel Gewicht betroffen als Kinder ohne Psoriasis. Mit dem Übergewicht steigen bei ihnen auch die Risiken für Herz-Kreislauferkrankungen. Das Risiko, eine Angststörung zu entwickeln, ist bei acht- bis zwölfjährigen Kindern mit Schuppenflechte beispielsweise im Vergleich zu Kindern ohne die Hauterkrankung ca. 9-fach erhöht, für eine Depression besteht ein ca. 6,5-fach höheres Risiko. Entzündliche Darmerkrankungen treten bei minderjährigen Psoriasis-Patienten drei- bis viermal häufiger auf als bei Kindern ohne Psoriasis.

Im Allgemeinen kann Psoriasis durch mehrere Faktoren, wie Infektionen, Stress und Hautverletzungen, Passivrauch verschlimmert werden. „Die Auslöser zu erkennen, hilft beim ‚Krankheitsmanagement‘. Damit und mit einer guten Hautpflege, einem gesunden Lebensstil und bei Bedarf entsprechenden Medikamenten lässt sich Psoriasis i.d.R. gut kontrollieren. Schulungen haben sich als besonders erfolgreich erwiesen, damit Eltern und Kinder die Bedeutung einer Lokaltherapie in Kombination mit Pflegemaßnahmen zur Stabilisierung der Hautbarriere verstehen, und erfahren, warum diese Hautkrankheit auch andere Organsysteme in Mitleidenschaft ziehen kann“, empfiehlt Professor Nentwich.

Am häufigsten sind Kinder- und Jugendliche mit Psoriasis vom Plaque-Typ mit kleinen schuppigen Hautstellen betroffen. Bei Säuglingen kann sich eine Schuppenflechte zunächst in der Windelregion in Form von kaum erhabenen, nicht schuppenden runden roten Hautflecken bemerkbar machen. Diese verschwinden nicht, wenn sie mit Mitteln gegen Ekzeme behandelt werden. Bei den meisten älteren Kindern ist die Kopfhaut mit dicken, weißlichen Schuppen auf geröteter Haut befallen, wobei der Ausschlag ein bis zwei Zentimeter über den Haaransatz hinausragen kann. Auch hinter den Ohren, in den äußeren Gehörgängen, auf den Oberlidern, im Gesicht, um den Nabel, am Gesäß und an den Streckseiten der Arme und Beine (vor allem Ellenbogen und Knie) kann sich Schuppenflechte bei Kindern ausbreiten. Häufiger als bei Erwachsenen sind die Achseln und Leisten und der Gesäßbereich betroffen, wobei die Schuppen wegen Hautreibung dort oft fehlen.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 11.12.2019

Epilepsie: Anfälle kündigen sich nicht an wie gedacht

Epileptische Anfälle kündigen sich wohl nicht durch die bislang angenommenen charakteristischen Veränderungen der Hirnstrom-Muster an. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler der Universität Bonn in einer aktuellen Studie. Die Ergebnisse sind nun in der Zeitschrift „Chaos: An Interdisciplinary Journal of Nonlinear Science“ erschienen.

Bei einem epileptischen Anfall entladen sich gleichzeitig große Nervenzell-Verbünde im Gehirn. Folgen sind dramatische Muskelkrämpfe und Bewusstseinsverlust, die lebensgefährlich sein können. Viele Forscher gehen davon aus, dass das Gehirn zuvor einen so genannten „Kipp-Punkt“ überschreitet, was dann fast zwangsläufig zu einem Anfall führt.

Die Annäherung an diesen Kipp-Punkt soll sich durch charakteristische Veränderungen der Hirnströme ankündigen – so besagt es zumindest eine gängige Hypothese. Einerseits reproduzieren Nervenzellverbünde in der Nähe dieses Punkts demnach ihre eigene Aktivität: Die Hirnströme, die sie erzeugen, ähneln sehr stark denen aus der Vergangenheit. Andererseits reagieren sie auf Störungen mit deutlich stärkeren Entladungen als normalerweise. Zudem dauert es länger, bis sich ihre Aktivität normalisiert. „Wir sprechen auch von einem ‚critical slowing down‘, abgekürzt CSL“, erklärt Prof. Dr. Klaus Lehnertz von der Klinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn.

Der Physiker hat mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Theresa Wilkat und seinem Doktoranden Thorsten Rings nach solchen CSL-Ereignissen gefahndet. Dazu werteten die Forscher Hirnstrom-Aufzeichnungen von 28 Patienten mit medikamentös nicht behandelbaren Epilepsien aus. Die Messungen erfolgten über Elektroden, die an verschiedenen Stellen in das Gehirn der Patienten implantiert worden waren. „Dies dient diagnostischen Zwecken, um etwa die Stelle zu identifizieren, von der die Anfälle ausgehen“, erklärt Lehnertz.

Als Frühwarnsystem ungeeignet

Je bis zu 70 Sonden trugen die Patienten in ihrem Denkorgan. Die Wissenschaftler analysierten jede einzelne der von den Fühlern erfassten EEG-Kurven mit ausgefeilten statistischen Methoden. „Dabei schauten wir nicht nur auf die Stunden direkt vor einem Anfall, sondern betrachteten einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen“, erklärt Wilkat.

Das Ergebnis war ernüchternd: „Wir fanden zwar eine Reihe von CSL-Ereignissen; diese traten aber in der Regel völlig unabhängig von einem Anfall auf“, betont Lehnertz. „Lediglich bei zwei Betroffenen konnten wir einen leichten Bezug zu den nachfolgenden Anfällen beobachten.“ Sein Fazit: Als Frühwarnsystem eigne sich das „critical slowing down“ nicht, auch wenn dies in der Literatur immer wieder so behauptet werde.

Für vielversprechender hält er es, nicht einzelne Stellen im Gehirn zu betrachten, sondern diese als Teile eines Netzwerks zu verstehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Ursache eines Anfalls sei vermutlich eben nicht die Aktivität eines einzigen Nervenzellverbundes, die aus dem Ruder laufe. „Stattdessen gibt es Rückkopplungs- und Verstärkungs-Effekte, die in ihrer Gesamtheit zu dieser massiven temporären Fehlfunktion des Gehirns führen“, betont er. Wenn man diese Vorgänge verstehe, werde man auch bessere Prognose-Verfahren entwickeln können.

Epileptische Anfälle kommen meist wie ein Blitz aus heiterem Himmel, was den Alltag der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Diese dürfen beispielsweise nicht Auto fahren oder bestimmten Tätigkeiten mit hoher Verletzungsgefahr nachgehen. Seit mehr als drei Jahrzehnten bemühen sich daher Mediziner, Physiker und Mathematiker, die gefährlichen Störungen des Gehirns vorherzusagen. Bislang mit durchwachsenem Erfolg: Zwar gibt es Systeme, die Vorboten der Krampfanfälle detektieren können (allerdings anhand anderer Indikatoren als dem „critical slowing down“). Sie funktionieren aber bislang bei etwa der Hälfte der Patienten und sind auch nicht besonders zuverlässig. So erkennen sie längst nicht jeden Anfallsvorboten und neigen außerdem zu Fehlalarmen.

Wissenschaftler rund um den Globus suchen aber nicht nur deshalb nach verlässlicheren Indikatoren, um Betroffene rechtzeitig warnen zu können. Sie hoffen auch, die Attacke durch eine geeignete Intervention im Vorfeld verhindern zu können.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 25.10.2019

WHO-Studie: Nur jeder fünfte Jugendliche bewegt sich genug

Die große Mehrheit der Jugendlichen weltweit bewegt sich laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zu wenig. Nur etwa jeder fünfte 11- bis 17-Jährige kommt demnach auf rund eine Stunde an moderater oder kräftiger Bewegung am Tag.

Auch deutsche Jugendliche schneiden in der Studie, die im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde, schlecht ab: 79,7 Prozent der Jungen und sogar 87,9 Prozent der Mädchen waren 2016 körperlich nicht aktiv genug. Im Vergleich zum Jahr 2001 haben sich die Zahlen für Deutschland kaum verändert, weltweit ging nur der Anteil bei den Jungen spürbar um 2,5 Prozentpunkte zurück.

Der für Deutschland zu beobachtende Unterschied zwischen Jungen und Mädchen zeigt sich auch auf globaler Ebene: Während sich 77,6 Prozent der Jungen nicht ausreichend bewegen, sind es 84,7 Prozent der Mädchen. Die größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden in Irland (17 Prozentpunkte) und den USA (16,5 Prozentpunkte) festgestellt.

Die WHO empfiehlt, dass sich Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 17 Jahren zumindest 60 Minuten am Tag bewegen sollten. Alles darüber hinaus sei für die Gesundheit zusätzlich förderlich. Erwachsene (18 bis 64 Jahre) sollten sich mindestens 150 Minuten pro Woche einfach bewegen oder alternativ mindestens 75 Minuten Sport treiben.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 25.11.2019

Was Kindern hilft, die Scheidung ihrer Eltern zu überwinden

Wenn Eltern sich trennen oder scheiden lassen, kann dies in vielen Fällen das Leben der Kinder und ihr seelisches Wohlbefinden negativ beeinträchtigen. Doch mit der Zeit lernen die meisten Kinder, sich den Veränderungen anzupassen – manche erfolgreicher als andere.

Dr. Susan Kay-Flowers von der Liverpool John Moores University führte eine umfassende Umfrage unter 34 jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 30 Jahren durch, bei der die jungen Menschen über ihre Kindheitserfahrungen bei Trennung und Scheidung berichteten (Childhood Experiences of Separation and Divorce, PolicyPress 2019). Für einige lag ihre Erfahrung nur ein bis drei Jahre zurück – für andere viel weiter in ihrer Vergangenheit.
Dr. Kay-Flowers fand heraus, dass die meisten jungen Menschen die Trennung ihrer Eltern mit der Zeit gut überstanden hatten. Ihre Ergebnisse zeigen, dass bestimmte Faktoren Kindern helfen oder es ihnen schwer machen, sich an dieses lebensverändernde Ereignis anzupassen.

Ende des Konflikts wird von Kindern positiv erlebt

Das Wichtigste, was den Kindern dabei half, sich anzupassen, war, dass die Trennung den Konflikt zwischen ihren Eltern beendete. Manchmal war dies erst möglich, wenn klar war, wo die Kinder leben sollten und wie der Kontakt zu den Eltern geregelt wird. Ab dieser Zeit berichteten die Teilnehmer, dass sie erleichtert waren und die Trennung als eine positive Verbesserung in ihrem Leben betrachten konnten, so Dr. Kay-Flowers.

Miteinander reden – auch schon im Vorfeld – stärkt Kinder

Die Kommunikation machte auch einen großen Unterschied: Wenn den Kindern im Vorfeld von ihren Eltern mitgeteilt wurde, was geschehen würde, erleichterte dies den Kindern, die sich ändernde familiäre Situation besser zu verstehen. Für kleine Kinder bedeutete dies oft, dass sie mehr als einmal Erklärungen erhielten. Kinder profitierten von der Möglichkeit, über die Trennung ihrer Eltern sprechen zu können und Unterstützung von anderen Familienmitgliedern wie Tanten und Großmüttern zu erhalten. Es habe sich auch als hilfreich erwiesen, mit Geschwistern und Freunden zu sprechen, insbesondere mit Freunden, die bereits ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Kinder, die sowohl mit ihren Eltern als auch mit ihren Freunden in Kontakt bleiben konnten, fiel die Trennung leichter. Als Erleichterung empfanden es Betroffene auch, wenn alle anderen Änderungen möglichst vermieden wurden: zum Beispiel, wenn Kinder nach der Trennung weiterhin in der gleichen Gegend leben konnten und die gleiche Schule besuchen durften. Wo dies geschah, hatten die Kinder das Gefühl, dass ihre Ansichten nach der Trennung mit berücksichtigt wurden – sie hatten das Gefühl, ihren Eltern „wichtig“ zu sein. Dies führte letztendlich zu einer positiveren Sicht der Trennung.

Ungewollt verlorener Kontakt wirkt sich negativ aus

Kinder, die den Kontakt zu dem Elternteil verloren, mit dem sie nicht zusammenlebten, aber sagten, dies sei das, was sie wollten, zeigten tendenziell ein hohes Maß an Anpassung. Aber diejenigen, die dies unfreiwillig taten, kamen nach der Trennung weniger zurecht. Kay-Flowers Nachforschungen ergaben, dass für Letztere die Trennung der Eltern weder eine Verbesserung noch einen signifikanten Verlust darstellte und sie sich mittelmäßig mit der neuen Situation arrangierten. Nur wenigen dieser Kinder wurde im Voraus von der Trennung berichtet, und Kontaktverlust bedeutete, dass sie ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt sahen. Obwohl sie keinen direkten Konflikt zwischen ihren Eltern erlebten, waren sie sich oft der Abneigung eines Elternteils gegenüber dem anderen bewusst und fühlten sich „zum Schweigen gebracht“, weil es zu Hause unerwünscht war, dass sie über den anderen Elternteil sprachen, was zu Loyaliätskonflikten führte.
Diese Kinder wirkten sehr isoliert, hatten wenigen Unterstützung innerhalb der Familie, keine Unterstützung außerhalb der Familie und wagten nicht, mit irgendjemandem über die Scheidung zu sprechen. Im Laufe der Zeit schufen sie eine emotionale Distanz zur Trennung, was bedeutete, dass sie es als ein Lebensereignis betrachteten, das sie hinter sich ließen.

Anhaltender Konflikt ist belastend

Kinder, die nach der Trennung weiterhin Konflikte zwischen ihren Eltern erlebten, konnten die Veränderungen weniger gut bewältigen. Als junge Erwachsene beschrieben sie bei der Befragung von Dr. Kay-Flowers, dass sie sich, insbesondere wenn sie von einem zum anderen Elternteil wechselten, sich im Konflikt zwischen beiden gefangen fühlten und sich für jüngere Geschwister verantwortlich sahen. Dies stimmt mit den Ergebnissen vieler früherer Studien überein. Eltern waren nach den Aussagen der betroffenen jungen Erwachsenen in vielen Fällen zu sehr mit ihren eigenen Problemen und Sorgen beschäftig, um noch die Bedürfnisse ihrer Kinder berücksichtigen zu können. Kinder, die nach der Trennung anhaltende Konflikte erlebten, trauten sich auch nicht, mit irgendjemandem in der Familie über die Trennung zu sprechen, aus Angst, den Konflikt zu verschlimmern.

Kinder empfanden es als besonders schwierig, wenn sich die Eltern nicht auf den Wohnort einigen und Vereinbarungen treffen konnten, sodass sie bei familiengerichtlichen Verfahren mit Sozialarbeitern sprechen mussten. Betroffene berichteten darüber, dass sie als Kinder Probleme gehabt hätten, die Änderungen nach der Trennung zu akzeptieren, und dass sie als junge Erwachsene die Trennung ihrer Eltern immer noch als einen sehr bedeutenden Verlust in ihrem Leben empfanden.

Wissen um unterstützende Faktoren, könnte Eltern helfen, Kindern die Trennung zu erleichtern

Die Faktoren zu kennen, die Kindern helfen, eine Scheidung bzw. Trennung ihrer Eltern und die Veränderungen, die sie mit sich bringen, gut zu bewältigen, könnten Eltern, die sich jetzt trennen, zugutekommen, um besser damit umzugehen, sodass Kinder die Trennung gut bewältigen können, hofft Kay-Flowers.

Negativer Effekt einer Scheidung für Kinder heute im Vergleich zu früher nicht mehr so stark

Scheidung der Eltern erhöht Risiko der Kinder für psychische Erkrankungen – doch der negative Effekt ist heutzutage etwas abgeschwächt. Zu diesem Ergebnis kommen Wiener Forscher. Dies könnte daran liegen, dass Eltern mittlerweile gelernt haben, was Kinder bei der Anpassung an die neue Situation unterstützt.

Wiener Experten werteten anhand einer systematischen Literaturrecherche für den Zeitraum von 1990 bis März 2018 die langfristigen Auswirkungen einer Scheidung von Eltern auf die psychische Gesundheit ihrer Kinder aus. Insgesamt haben die Experten 54 Studien in die Metaanalyse einbezogen, was eine Gesamtstichprobe von 506.299 Teilnehmern ergab.

Die Wissenschaftler konnten für Kinder, die eine Trennung ihrer Eltern erlebt hatten, langfristig ein erhöhtes Risiko ermitteln, eine Depression oder eine Angsterkrankung zu entwickeln, auch das Risiko für einen Selbstmordversuch und Selbstmordgedanken war für diese Kinder erhöht. Die Gefährdung für Suchterkrankungen (Alkohol, Rauchen und Drogen) war ebenso größer als für Kinder, deren Eltern zusammengeblieben waren.

Personen, die von einer Scheidung in ihrer Kindheit betroffen waren, haben ein zwar ein höheres Risiko, an verschiedenen psychischen Erkrankungen zu erkranken, aber die Auswirkungen sind von 1990 bis 2017 zurückgegangen, lautet das Fazit von Univ.-Ass. Felicitas Auersperg, MSc. und Kollegen von der Universität Wien in ihrem Beitrag im „Journal of Psychiatric Research“.

Weitere Untersuchungen sollten sich auf die Entwicklung von Programmen zur Förderung der Widerstandsfähigkeit von Kindern konzentrieren, die von einer Scheidung betroffen sind, so die Erwartung der Autoren.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 02.12.2019

Masernschutzgesetz: Impfpflicht auch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

Am 14. November 2019 hat der Gesetzgeber eine Impfplicht gegen Masern beschlossen. Diese Pflicht gilt auch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes sehen vor, dass Personen, die nach 1970 geboren sind und in Einrichtungen des Gesundheitswesens arbeiten, einen ausreichenden Impfschutz oder Immunität gegen Masern nachweisen müssen. Zu diesen Einrichtungen zählen Krankenhäuser, Rehabilitationskliniken und auch psychotherapeutische und ärztliche Praxen. Das Gesetz tritt voraussichtlich zum 1. März 2020 in Kraft.

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen demnach über einen Impfausweis oder eine ärztliche Bescheinigung belegen können, dass sie gegen Masern geimpft oder immun sind. Niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen diesen Nachweis nicht bei einer Behörde vorlegen; es reicht aus, ihn in den Unterlagen zu haben. Angestellte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen ihn der Leitung ihrer Einrichtung vorlegen. Ausgenommen von diesen Regelungen sind Menschen, die aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können.

Impfschutz für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die eine Einrichtung des Gesundheitssystems leiten, müssen dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Aufnahme ihrer Tätigkeit in der Einrichtung einen ausreichenden Impfstatus oder Immunität gegen Masern nachweisen können. Dies gilt dem neuen Gesetz zufolge ausdrücklich auch für Reinigungskräfte und Praktikantinnen und Praktikanten in einer psychotherapeutischen Praxis. Leitende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen den ausreichenden Masernschutz der Mitarbeitenden überprüfen und dokumentieren.

Ausgenommen von der neuen Regelung sind die Jahrgänge vor 1971. Nach epidemiologischen Studien besteht in diesen Altersgruppen in der Bevölkerung ein ausreichender Schutz gegen Masern. Der Gesetzgeber folgt damit den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut.

Quelle: www.ptk-nrw.de vom 22.11.2019

Länder für ein Rauchverbot im Auto

Die Länder möchten das Rauchen im Auto verbieten lassen, wenn Schwangere und Kinder dabei sind.

Sie beschlossen am 11.10.2019, einen entsprechenden Gesetzentwurf beim Bundestag einzubringen. Darin schlagen sie eine Änderung im Bundesnichtraucherschutzgesetz vor, die das Rauchen in geschlossenen Fahrzeugen in solchen Fällen ausdrücklich untersagt. Im Falle eines Verstoßes soll ein Bußgeld von 500 bis 3.000 Euro drohen.

Zur Begründung seiner Initiative verweist der Bundesrat auf die massiven Folgen des Passivrauchens: Weltweit würden jährlich 166.000 Kinder an den Folgen des Passivrauchens sterben, heißt es in dem Gesetzentwurf. Gerade in Fahrzeugkabinen seien Minderjährige und ungeborene Kinder den Gefahren einer gesundheitlichen Schädigung besonders ausgesetzt: Nirgends sei die Passivrauchkonzentration so hoch wie im Auto als Mitfahrer. Schätzungen des Deutschen Krebsforschungszentrums zufolge sei derzeit rund eine Million Minderjähriger in Deutschland Tabakrauch im Auto ausgesetzt.

Der Gesetzentwurf wird nun über die Bundesregierung dem Bundestag zugeleitet. Dieser entscheidet, ob er den Vorschlag des Bundesrates aufgreifen will. Feste Fristen gibt es hierfür nicht.

Quelle: Pressemitteilung des BR vom 11.10.2019

Kinder und Jugendliche: Neues Jugendmedienschutzgesetz auf dem Weg

Bun­des­fa­mi­lien­mi­nis­terin Franziska Giffey (SPD) will bis zum Jahresende ihre Vorschläge für mehr Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Videospielen und Apps vorlegen. Union und SPD hatten in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, mit schärferen Regeln Kinder und Jugendliche besser vor Cybermobbing, sexueller Belästigung und Suchtgefährdung zu schützen. Giffey plant dafür ein entsprechendes Jugendmedienschutzgesetz. Unter anderem sollen damit Risiken für Kinder bei Chat-Funktionen in Onlinespielen eingedämmt werden, außerdem geht es um den Schutz vor Kostenfallen bei In-App- oder In-Game-Käufen. Dabei können etwa zunächst frei zu beziehende Angebote im Spielverlauf zu Kosten führen. Das geplante Gesetz solle auch mobile und interaktive Social-Media- und Games-Angebote erfassen, wenn diese nicht von Deutschland aus betrieben würden. Geplant sei, dass Anbieter Vorsorgemaßnahmen treffen müssten. Das könnten zum Beispiel sichere und kindgerechte Voreinstellungen bei Apps und Spielen sein. Giffey hatte zuvor die Anbieter von Spielen zu mehr Verantwortung aufgerufen. Diese sollten zum Beispiel offenlegen, wenn Loot Boxes in einem Spiel enthalten seien. Dies sind virtuelle Kisten mit Belohnungen oder Gegenständen wie Waffen oder Fähigkeiten, die vom Spieler zum Teil nur gegen Bezahlung geöffnet werden können. dpa

Quelle: www.aerzteblatt.de von 10/19

Weiterhin psychotherapeutische Mangelversorgung in der Psychiatrie

BPtK: G-BA-Reform ist patientenmissachtend

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) kritisiert die Entscheidung zur Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik als patientenmissachtend. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) scheitert an einer Reform, die dringend notwendig war, um die Patienten in den Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen nach modernen Standards ausreichend und sachgerecht zu versorgen. „Der G-BA nimmt in Kauf, dass Patienten nicht die Behandlung bekommen, die sie benötigen“, kritisiert Dr. Dietrich Munz. „Auf den Stationen wird es weiter zu vermeidbarer Gewalt und Zwangsmaßnahmen kommen, da Patienten in psychischen Krisen nicht angemessen behandelt und ausreichend betreut werden können. Das Ergebnis der G-BA-Beratung ist angesichts dieser seit Jahren bekannten Personalmängel und Behandlungsdefizite beschämend.“ Die BPtK fordert deshalb von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, den G-BA-Beschluss zu beanstanden.

Nach fast fünfjähriger Beratungszeit hat der G-BA heute Mindestanforderungen an die Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik beschlossen. Er schreibt damit aber nur die Regelungen der fast 30 Jahre alten Psychiatrie-Personalverordnung fort. Eine nachhaltige Erhöhung des Personals, insbesondere mehr Pflegende und mehr Psychotherapeuten, wird es nicht geben. „Die Fortsetzung der psychotherapeutischen Mangelversorgung der Patienten vor allem in der Psychiatrie ist unverantwortlich“, kritisiert BPtK-Präsident Munz. „Der G-BA ist an seinem gesetzlichen Auftrag, eine leitlinienorientierte Versorgung in Krankenhäusern für psychisch kranke Menschen umzusetzen, kläglich gescheitert.“

Die Standards der überholten Psychiatrie-Personalverordnung führen inzwischen zu Fehlbehandlungen, weil Patienten keine fachgerechte Psychotherapie erhalten. Patienten der Allgemeinpsychiatrie erhalten danach in der Regel- und Intensivbehandlung nur maximal eine halbe Stunde Einzelpsychotherapie pro Woche. Das betrifft 73 Prozent der Patienten, die in der Psychiatrie behandelt werden. In anderen Bereichen, z. B. der Gerontopsychiatrie, erhalten sie noch weniger Psychotherapie. Mit den neuen Personalvorgaben bekommen Patienten künftig 50 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche. „Schwer kranke Menschen erhalten allerdings bereits in der ambulanten Versorgung mehrere Stunden Einzeltherapie“, erklärt BPtK-Präsident Munz. „In den psychiatrischen Krankenhäusern, die gerade eine intensivere Behandlung von psychisch kranken Menschen ermöglichen sollen, bleibt damit die Versorgung mehr als mangelhaft.“ Die BPtK fordert mindestens 100 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche für alle Patientengruppen in allen Behandlungsbereichen.

Die BPtK kritisiert seit Langem, dass in der Psychiatrie keine leitliniengerechte Versorgung der Patienten möglich ist. Dafür muss ein grundsätzlich neues Modell zur Berechnung der Personalausstattung in diesen Kliniken entwickelt werden. Maßgeblich ist, dass der Behandlungsbedarf verschiedener Patientengruppen anhand objektiver, nachvollziehbarer und überprüfbarer Kriterien festgelegt wird. Es muss klar sein, nach welchen Kriterien, z. B. Diagnose, psychosoziale Einschränkungen, somatische Komorbiditäten, Patienten klassifiziert werden und welcher Leistungsanspruch für sie damit verbunden ist. Die Krankenhäuser müssen die Kosten für das so berechnete Personal in den Budgetverhandlungen verbindlich berücksichtigen können. Im Gegenzug sollten die Krankenhäuser verpflichtet werden, Transparenz darüber herzustellen, welche Behandlungsleistungen mit dem vereinbarten Personal realisiert wurden. Die BPtK spricht sich dafür aus, dass der G-BA dazu gesetzlich verpflichtet wird, ein solches Modell zu entwickeln.

Quelle: www.bptk.de vom 20.09.2019

Neues Disease-Management-Programm bei Depressionen, kein Screening auf Depression

Patientinnen und Patienten mit chronischen Depressionen oder wiederholt auftretenden depressiven Episoden von mittlerer bis schwerer Ausprägung können sich künftig im Rahmen eines Disease-Management-Programms (DMP) behandeln lassen. Auch Menschen, die neben körperlichen Erkrankungen zudem an einer psychischen Erkrankung leiden, können in das DMP aufgenommen werden. Tritt die Depression jedoch als Folge einer körperlichen Grunderkrankung auf, soll eine Einschreibung in das DMP nicht möglich sein.

Die inhaltlichen Anforderungen für das neue strukturierte Behandlungsprogramm hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seiner Sitzung am 15. August 2019 beschlossen. Vor dem Start muss der Bundesgesundheitsminister dem Beschluss zustimmen.

Zentrale Säulen Psychotherapie und Psychopharmaka

Das Disease-Management-Programm gründet auf einer leitlinienorientierten Behandlung mit Psychotherapie und medikamentöser Therapie. Die konkreten The­rapieempfehlungen richten sich insbesondere nach Verlauf und Schweregrad der Depression unter Berücksichtigung komorbider körperlicher und psychischer Erkrankungen. Auch das Vorgehen bei Suizidalität und Maßnahmen des Krisenmanagements werden im DMP adressiert. Zudem soll Patientinnen und Patienten, die aus fachlicher Sicht davon profitieren können, ein evaluiertes digitales Selbstmanagementprogramm unter qualifizierter Begleitung ermöglicht werden. Alternativ können evaluierte Präsenzschulungen angeboten werden. Die Langzeitbetreuung und Koordination der Behandlung soll durch die Hausärztin/den Hausarzt erfolgen. In Ausnahmefällen können spezialisierte Leistungserbringer wie Fachärztinnen bzw. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie diese Aufgabe übernehmen.

PTK NRW fordert stärkeren Einbezug der Profession

Die Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) begrüßt, dass der G-BA ein strukturiertes Behandlungsprogramm bei Depressionen auf den Weg gebracht hat, denn der Bedarf ist unumstritten. Kritisch sieht die Kammer allerdings, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht als DMP-Koordinatoren zugelassen sind und Patientinnen und Patienten sich bei ihnen nicht in das Behandlungsprogramm einschreiben können. „Die Profession spielt bei der Behandlung von Depressionen eine wesentliche Rolle und muss bei der Umsetzung eines Disease-Management-Programms stärker berücksichtigt werden – aus fachlicher Sicht ebenso wie im Sinne der Patientinnen und Patienten“, fordert Kammerpräsident Gerd Höhner.

Sinnvoll sei hingegen, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Fachärztinnen und Fachärzte systematisch in den Behandlungsverlauf eingebunden werden sollen. Zeigt sich nach sechs Wochen hausärztlicher Behandlung keine ausreichende Besserung, soll die Hausärztin/der Hausarzt die Überweisung in eine psychotherapeutische Praxis oder eine entsprechend qualifizierte Facharztpraxis prüfen.

Screening auf Depression nicht empfohlen

Des Weiteren beschloss der G-BA in seiner Sitzung am 15. August 2019, ein Screening auf Depressionen nicht in die Gesundheitsuntersuchung für Erwachsene aufzunehmen. Grundlage für diese Entscheidung war ein Bericht des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Im Fazit hatte die Studienauswertung keinen Nutzen durch ein systematisches Screening auf Depressionen gezeigt. Auch dieser G-BA-Beschluss wird nun vom Bundesgesundheitsministerium geprüft.

Quelle: www.ptk-nrw.de vom 27. August 2019

Warum Geschwister für psychisch Kranke so wichtig sind

Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, leidet meist auch das Umfeld. Bruder und Schwester werden dabei häufig übersehen, dabei können sie die Betroffenen unterstützen. Mitunter brauchen sie aber auch selbst Hilfe.

Christopher*, 32, bemerkt beim Geburtstag seines Großvaters sofort, dass mit seinem Bruder etwas nicht stimmt. Sie hatten sich ein paar Monate nicht gesehen. Aufgedreht und ohne Punkt und Komma erzählt der Bruder beim Kaffee von schlaflosen Wochen und zahlreichen Projekten, die er aktuell im Studium stemmt. Er hört auch dann nicht auf zu plappern, als er ohne direkten Gesprächspartner an einem Tisch sitzt und alle anderen Gäste einer Festrede des Onkels lauschen.

„Ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Christopher. Am Ende des Familienfestes spricht er seinen Bruder darauf an und erklärt ihm vorsichtig seine Sorge. Nicht immer verläuft es so positiv, aber der Bruder nimmt seine Bedenken an und geht nach ein paar Tagen von sich aus in eine Klinik.

Dort bestätigt sich Christophers Verdacht: Sein Bruder befindet sich inmitten einer Manie, dem Gegenstück zur Depression. Er braucht dringend professionelle Hilfe. Christopher hat ihn womöglich vor Schlimmerem bewahrt.

Eltern, Kinder und Geschwister leiden mit

Eine psychische Erkrankung trifft fast immer auch die Familie. Die Eltern, die Kinder, und eben auch die Brüder und Schwestern. Im Leben der Betroffenen spielen sie häufig eine große Rolle, sind mitunter wichtigste Ansprechpartner oder – wie Christopher – Ersthelfer in Krisen.

Es gibt Millionen Geschwister in Deutschland, doch als Helfer und zu Stützende werden sie häufig übersehen. Kliniken und Therapieeinrichtungen richten sich mit Gesprächs- und Hilfsangeboten fast ausschließlich an die Mutter und den Vater, selten sehen sie die mit betroffenen Geschwister. Dabei haben diese durchaus Bedarf an Unterstützung.

„Außen vor und doch mittendrin“ heißt eine der ersten Studien, die in Deutschland die Situation von Geschwistern psychisch Erkrankter beschreibt. Die Psychologin Rita Schmid von der Universität Regensburg und ihre Kollegen bezeichnen Geschwister in der Untersuchung von 2004 gar als „vergessene Angehörige“: „Therapeutische Entscheidungen werden in der Regel ohne ihre Einschätzung und Meinung getroffen, obgleich sie den Erkrankten und seinen Erkrankungsverlauf häufig am längsten kennen“, schreiben die Studienautoren. Nicht zuletzt würden solche Entscheidungen oftmals auch Einfluss auf das Leben des gesunden Geschwisters haben.

Von Behandlern missachtet

Eine Untersuchung aus Österreich mit dem Titel „Zu Unrecht vernachlässigt“bestätigt den Befund. Während acht von zehn Eltern von an Schizophrenie Erkrankten zu Angehörigengruppen in einem psychiatrischen Klinikum eingeladen wurden, erhielten nur vier von zehn Geschwistern diese Einladung. Dabei seien die Geschwister eine „subjektiv stark belastete Gruppe“, die stärker beachtet werden sollte, betonten die Studienautoren.

Auch Reinhard Peukert, emeritierter Professor und noch immer Forscher auf dem Gebiet der Gemeindepsychiatrie, will die Rolle von Geschwistern stärken. Er kennt das Problem aus eigener Erfahrung: Als junger Erwachsener erkrankte sein Bruder an Schizophrenie. Jahrelang stand Peukert ihm zur Seite und begleitete ihn. „Es gab viele traurige und bedrückende Erlebnisse, dennoch war es für mich ein enormer Gewinn, sein Bruder zu sein“, sagt Peukert. Die Krankheit habe seine Interessen und sogar seine Berufswahl stark beeinflusst.

Der Bruder nahm sich Jahre später das Leben. Bis heute lässt Peukert das Thema nicht los. Er begleitet seit Jahrzehnten Forschungsprojekte, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. In seinen Untersuchungen berichtet er von Geschwistern, die sich mitunter nicht nur übersehen, sondern von den Behandlern in Kliniken regelrecht missachtet fühlen.

Auch Christopher hat noch nie mit einem Behandler seines Bruders gesprochen, obwohl dieser bereits mehrfach in Kliniken war. Er wäre aber durchaus bereit dazu. Er wirkt zwar oft nur wie ein stiller Beobachter, doch für den kranken Bruder ist er eine wichtige Stütze.

Eine gesunde Stimme mehr im Raum

„Die Geschwister in Behandlungsgesprächen dabei zu haben, ist für alle Beteiligten ein Gewinn“, sagt der Psychologe Thomas Bock vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Gespräche würden nicht wie vielleicht vermutet komplizierter, sondern leichter. „Geschwister katalysieren“, sagt Bock. „Durch sie hat man eine gesunde Stimme mehr im Raum, die deutlich macht, was die üblichen Konflikte der Familie sind, und was durch die Krankheit hinzukommt.“

Zwischen den Geschwistern zeige sich in solchen Familiengesprächen zudem oftmals wertvolle Solidarität und Einvernehmen. Meist lädt Bock zu einem weiteren Gespräch nur den Patienten und sein Geschwister ein: „Diese Gespräche sind oft aufbauend und entlastend – für beide Seiten.“

Die Gesundheitswissenschaftlerin Jacqueline Sin von der University of London geht daher noch einen Schritt weiter. Sie ist davon überzeugt, dass eine organisierte Unterstützung der Geschwister auch den Betroffenen hilft und fordert deshalb eine Art psychologischen Lehrgang für Geschwister.

Erschöpft oder depressiv durch Krankheit des anderen

Reinhard Peukert will vor allem, dass Geschwister Rückhalt bekommen. Zu diesem Zweck hat er ein Geschwisternetzwerk gegründet, das auch ein Online-Selbsthilfeforum anbietet. „Wir wollen die Erfahrungen von Geschwistern stärker ans Licht der Öffentlichkeit und ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen“, erklärt er. Auch sollen mehr Selbsthilfegruppen aus dem Netzwerk hervorgehen, denn bislang gibt es davon bundesweit nur eine Handvoll.

Viele betroffene Geschwister brauchen dringend Gespräche und Austausch, denn die Erkrankung des anderen bringt auch die eigene seelische Verfassung ins Wanken, wie eine weitere Studie der Regensburger Psychologin Rita Schmidoffenbart: Zwei von drei Menschen leiden demnach unter seelischen Problemen, wenn der Bruder oder die Schwester psychisch erkrankt. Viele litten unter Schlafstörungen, seien erschöpft, oder depressiv verstimmt.

Die Gründe sind vielfältig: Je nachdem, wie intensiv die Beziehung ist, verlieren Geschwister mitunter einen wichtigen Lebensgefährten. Sie haben Angst um den anderen, manchmal schämen sie sich oder werden wütend. Bei vielen sitzt der Schock tief.

Drei von vier psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr, also in Kindheit, Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter. Die Geschwister sind häufig in einem ähnlichen Alter, in dem sich die Folgen der Krankheit meist stark ausprägen. Besonders junge Geschwister brauchen Erklärungen dafür, was mit ihrem Bruder oder der Schwester geschieht. Gerade junge Kinder suchen die Schuld auch bei sich. War ich zu forsch beim Spielen mit dem Bruder? Hab ich die Schwester zu sehr geärgert?

Ältere Geschwister hingegen fühlen sich oftmals aus einem anderen Grund schuldig: weil sie gesund sind. Forscher sprechen von der sogenannten Überlebensschuld, weil dieses Gefühl mitunter auftritt, wenn Menschen Unfälle oder Katastrophen überleben, bei denen andere gestorben sind. Sie fragen sich: Warum meine Schwester, warum mein Bruder, warum nicht ich?

Christopher war gut informiert, als sein Bruder erkrankte, er hatte selbst Psychologie studiert. Die seelische Notlage des Bruders konnte er daher sofort erkennen – und richtig handeln.

Quelle: www.spiegel.de vom 16.02.2019