Neue Erkenntnisse zur menschlichen Gehirnentwicklung: Forschende identifizieren geschlechtsspezifische Unterschiede

Forschende des Universitätsklinikums Tübingen haben gemeinsam mit internationalen Forschungspartnern aufschlussreiche Erkenntnisse gewonnen: Die neuronale Komplexität der Gehirnaktivität verändert sich vom späten Stadium der Schwangerschaft bis in die frühe Kindheit anders als erwartet und zudem mit geschlechtsspezifischen Unterschieden.

Bereits in den frühen Phasen des Lebens zeigen sich je nach Entwicklungsstadium signifikante Unterschiede in der Art und Weise, wie das Gehirn Signale und Informationen aufnimmt und verarbeitet. Eine gestörte Entwicklung kann dauerhafte Folgen haben und zu psychischen Erkrankungen führen.

In der internationalen Studie hat das Team untersucht, wie das menschliche Gehirn auf äußere Reize, wie beispielsweise Tonsequenzen, reagiert, sowohl vor als auch nach der Geburt. Gemessen werden konnten die Reaktionen des Gehirns mit der fetalen Magnetenzephalographie (fMEG), die nicht-invasiv an der Oberfläche des Bauches der Mutter die Gehirnaktivität schon im Mutterleib misst. Die Sensoren befinden sich unter einer Messschale, die optimal an die Form des mütterlichen Bauches angepasst ist. „Sensorische Stimulation bietet uns eine einzigartige Möglichkeit, zu beobachten, wie junge Gehirne Informationen von außen verarbeiten. Und das auf eine vollkommen sichere Weise“, erklärte Prof. Dr. Hubert Preissl vom fMEG-Zentrum Tübingen und dem Institut für Diabetesforschung und metabolische Erkrankungen des Helmholtz Zentrums München.

Erkrankungen frühzeitig erkennen und therapieren

Die Hypothese der Forschenden: Je weiter sich das Gehirn entwickelt, desto komplexer sind die neuronalen Reaktionen auf Reize von außen. Überraschenderweise zeigen die Ergebnisse, dass die Komplexität der neuronalen Antworten abnimmt, und zwar in geschlechtsspezifisch unterschiedlichem Tempo. Diese Unterschiede könnten Aufschluss darüber geben, warum bestimmte Entwicklungsstörungen bei Jungen und Mädchen in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. „Zunächst war ich ziemlich überrascht“, gab Dr. Joel Frohlich vom Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie zu. „Instinktiv hatte ich angenommen, dass mit der Reifung des Gehirns auch seine Aktivität komplexer werden würde.“ Jedoch erscheint es sinnvoll, dass reifende Gehirnverbindungen auf externe Reize mit strukturierteren Mustern reagieren. Ein entwickelteres Gehirn ist also geordneter und hat dadurch weniger Möglichkeiten, auf denselben Reiz in unterschiedlicher Weise zu reagieren.

Das Forscherteam aus Tübingen plant, den Zusammenhang zwischen den beobachteten Gehirnmustern und der langfristigen psychischen Gesundheit weiter zu erforschen. „Je früher wir das Risiko für die Entwicklung neuropsychiatrischer und metabolischer Störungen identifizieren, desto effektiver können wir die Gehirnentwicklung unterstützen, um schwerwiegende Krankheitsverläufe zu verhindern“, verdeutlichte Prof. Dr. Alireza Gharabaghi vom Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie. Diese Erkenntnisse könnten den Weg für zukünftige präventive Maßnahmen und Behandlungsstrategien ebnen, die das Forschungsteam auch im Rahmen des Zentrums für Bionic Intelligence und des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit erforscht. An der Studie wesentlich beteiligt waren Dr. Joel Frohlich, Dr. Julia Moser, Dr. Katrin Sippel, Dr. Pedro Mediano, Prof. Dr. Hubert Preissl und Prof. Dr. Alireza Gharabaghi vom Tübinger Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 15.03.2024