Über eine im Mittel immer früher einsetzende Pubertät berichten Mediziner schon seit einigen Jahrzehnten. Die Coronapandemie hat diesen Effekt offenbar nun noch deutlich verstärkt. „Es wurden 20–30 % mehr Fälle verfrühter Pubertät erfasst“, sagte Bettina Gohlke von der Universitätskinderklinik Bonn. Das Phänomen sei weltweit aufgefallen, entsprechende Daten gebe es aus Europa ebenso wie aus den USA und China (Diabetes, Obesity and Metabolism 2023).
Als verfrühte Pubertät – Pubertas praecox genannt – wird die Entwicklung äußerer Sexualmerkmale bei Jungen vor dem vollendeten 9. und bei Mädchen vor dem vollendeten 8. Lebensjahr bezeichnet. Bei den Mädchen entwickelt sich dann unter anderem die Brust – eine Vermutung zum Coronaeffekt war darum, dass die frühere Entwicklung den Eltern eher auffiel, weil sie im Zuge von Schulschließungen und Homeoffice mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten. Möglich sei auch ein Zusammenhang mit höherer psychosozialer Belastung, erklärte Kinderendokrinologin Gohlke. Frühere Studien hätten gezeigt, dass Kinder in solchen Situationen körperlich früher reiften.
Diskutiert werde zudem ein Gewichtseffekt: Viele Kinder aßen in der Pandemie mehr beziehungsweise bewegten sich merklich weniger – und Übergewicht gilt als einer der wichtigsten Faktoren für eine früh einsetzende Pubertät. „Aber auch, wenn das Gewicht herausgerechnet wurde, blieb ein Plus an Fällen von Pubertas praecox“, sagte Gohlke. „Vermutlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Effekt.“ Unklar sei bisher, ob er sich mit dem Abklingen der Pandemie wieder verflüchtige.
Aktuell treffe eine verfrühte Pubertät Kinder aus sozial schwächeren Familien anteilig häufiger, weil sie öfter übergewichtig seien, sagt Günter Stalla, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). „Gesundheit hängt von sozialem Status und Bildung ab, das zeigt sich auch hier.“
Einfluss hat nach Annahme vieler Experten neben Übergewicht auch, dass Kinder heutzutage einem ganzen Cocktail hormonell wirkender Substanzen ausgesetzt sind. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Einfluss hat“, betont Gohlke. Das Problem sei der Mangel an Studien. Aus Tierversuchen ließen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen, klinische Studien am Menschen seien in dem Bereich nicht möglich.
„Die einsetzende Pubertät ist ein Wachstumsbeschleuniger“, erklärt Stalla. Vorzeitig pubertierende Kinder schießen also zunächst rascher in die Höhe – doch es gibt bei ihnen einen gegenläufigen Prozess, der zur Folge hat, dass sie im Mittel letztlich kleiner bleiben als später in die Pubertät startende. Die Sexualhormone, die das Wachstum zunächst beschleunigen, sorgen auch dafür, dass es verfrüht endet, indem die Wachstumsfugen geschlossen werden.
Neben solchen körperlichen Folgen kann es psychische geben, sagt Stephan Petersenn, Mediensprecher der DGE. Und das nicht nur deshalb, weil Kinder sich zum Beispiel für Brustwachstum oder Behaarung schämten: Mit einsetzender Pubertät veränderten sich auch die Art zu denken und die Gefühlswelt, was zu Problemen im Freundeskreis führen könne, erklärt Petersenn. „Man reift früher zu erwachsenem Denken heran.“
Quelle: Ärzteblatt PP 23, Ausgabe April 2024