Kinder und Jugendliche in der Coronapandemie: Die Probleme setzen sich fort

Kinder und Jugendliche haben zum Schutz von älteren und vulnerablen Menschen in der Pandemie unter Lockdown-Bedingungen auf vieles verzichten müssen. Die daraus resultierenden psychischen Probleme sind in der psychotherapeutischen Versorgung angekommen.

Die Folgen der Coronamaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind weitreichend und werden jetzt in den psychotherapeutischen und psychiatrischen Praxen sichtbar. Dysfunktionales Homeschooling, Konflikte mit den Eltern, fehlende soziale Kontakte mit Freunden, Sorgen um Angehörige sowie Zukunftsängste haben Heranwachsende psychisch stark belastet. „Studien belegen einen erhöhten psychotherapeutischen Behandlungsbedarf, wobei sich je nach Entwicklungsphase der Heranwachsenden psychische Probleme in unterschiedlichen Reaktionen äußern. Zu erwarten ist, dass sich die Probleme mit der Rückkehr zur Normalität fortsetzen“, betonte Prof. Dr. phil. Stefanie Schmidt, Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Bern bei der Fachveranstaltung „Kinder brauchen mehr/Jugend braucht mehr“ am 9. November. Eingeladen dazu hatte ein bundesweites Bündnis, bestehend aus 36 Psychotherapieverbänden (GK-II).

Zi zeigt mehr Inanspruchnahme

Vor Kurzem zeigte auch der Trendreport des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) für das erste Halbjahr 2021 eine auffällige Zunahme der Inanspruchnahme von kinder- und jugendpsychotherapeutischen Leistungen. Diese lag acht Prozent über der vorpandemischen Vergleichsperiode der ersten sechs Monate 2019. Im Juni 2021 lagen die Fallzahlen 37 Prozent über denen des Juni 2019. „Die offenbar pandemiebedingten massiven psychischen Belastungen der unter 18-Jährigen machen sich jetzt zunehmend in der ambulanten Versorgung bemerkbar“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dominik von Stillfried.

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) fordert von der Bundesregierung, Maßnahmen zu ergreifen, um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen besser zu schützen. „Die Auswirkungen der Pandemie und das Leiden der Heranwachsenden und Familien erleben wir täglich in unseren Praxen“, betonte Michaela Willhauck-Fojkar, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Vorstandsmitglied der BPtK bei der Fachveranstaltung. Die psychische Widerstandsfähigkeit der Heranwachsenden müsse deshalb mit verschiedenen Maßnahmen gestärkt werden.

Gleichzeitig werden aktuell aufgrund der vierten Coronawelle wieder neue Einschränkungen diskutiert. „Wir können uns nicht sicher sein, dass wieder Maßnahmen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden – Schul- und Kitaschließungen müssen dabei unbedingt vermieden werden“, forderte Willhauck-Fojkar.

Die Wissenschaftlerin Schmidt beleuchtete einige aktuelle Forschungsergebnisse zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. So habe sich gezeigt, dass die psychische Gesundheit der Eltern oder gar elterlicher Burn-out einen großen Einfluss auf die psychische Belastung von Kindern hatte, weniger auf die von Jugendlichen. Kinder, die nicht mit beiden Elternteilen zusammenleben, hatten zudem weniger Probleme, was mit Paarkonflikten unter Lockdown-Bedingungen zusammenhänge. Entscheidend für Belastungen war Schmidt zufolge auch die Art der Kommunikation in Familien.

„Eine große Anzahl Kinder und Jugendlicher erlebt Stress und psychische Probleme in der Coronapandemie“, sagte Schmidt. Um gegenzusteuern, brauchten sie Monitoring und Unterstützungsangebote; insbesondere die vulnerablen Gruppen. Im Auge behalten müsse man auch die Lebensspannenperspektive der Heranwachsenden im Hinblick auf Transitionen und Zukunftsängste.

Vulnerable Gruppen

Als vulnerable Gruppen kennzeichnete Dr. phil. Johanna Thünker, Vorsitzende des Verbands Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (VPP) insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, sozial benachteiligte Kinder, Heranwachsende mit schweren chronischen Erkrankungen sowie Behinderungen, Opfer häuslicher Gewalt sowie Long-COVID-Betroffene. „Diese Kinder und Jugendlichen müssen wir besonders unterstützen und im Blick behalten“, sagte Thünker.

Die Psychologische Psychotherapeutin machte zudem darauf aufmerksam, dass die Kernherausforderungen des Erwachsenwerdens, wie Verselbstständigung und Selbstpositionierung, für Jugendliche durch den Lockdown unterbrochen wurden. Zugenommen hätten stattdessen Zukunftsängste, Leistungsdruck und Vereinsamung. All dies müsse man im Blick behalten.

Der vermehrte Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Versorgung hat die bestehende Unterversorgung im kinder- und jugendpsychotherapeutischen Bereich noch verschärft. Darin waren sich alle Beteiligten der Fachveranstaltung einig. VPP-Vorsitzende Thünker wies auch darauf hin, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung hier in der Pflicht seien, die Versorgung sicherzustellen. Sonderbedarfszulassungen seien hier eine wichtige Maßnahme, so Thünker. Weitere Maßnahmen, die jetzt zum Tragen kommen sollten, sind ihr zufolge die verstärkte Nutzung diagnostischer Instrumente zur Früherkennung und der Ausbau von Gruppenpsychotherapie. Des Weiteren sei es notwendig, Primär- und Sekundärprävention mit Blick auf die vulnerablen Gruppen zu etablieren. Ebenso wichtig sei ein Ausbau der Forschung.

Mit dem Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ stellt die Bundesregierung in den Jahren 2021/ 2022 zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Neben einer Milliarde Euro für den Abbau von Lernrückständen, wird mit einer zweiten Milliarde Euro die Unterstützung für Kinder, Jugendliche und Familien durch das Bundesfamilienministerium geleistet. Damit können junge Menschen beispielsweise Ferienfreizeiten und Familienerholung bekommen. Zugleich sollen Kinder und Jugendliche durch massive Aufstockung der Schulsozialarbeit in ihren sozialen Kompetenzen unterstützt und bei der Rückkehr in den Alltag psychosozial begleitet werden.

Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ariadne Sartorius vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) hatte alle zuständigen Landes- und Bundesministerien zur Umsetzung der eingeforderten Maßnahmen für Kinder und Jugendliche befragt. „Die Ergebnisse zeigen, dass die Zielgruppen von diesem bunten Potpourri von regionalen Hilfsangeboten auf Landesebene meist nicht oder nur unzureichend erreicht werden“, sagte Sartorius. Die eigentlich gute Idee des Projektes „Aufholen nach Corona“ wirke nur bedingt, da es zu viele unterschiedliche und heterogene Maßnahmen umfasse, sodass die Wirkung der finanziellen Förderung damit ineffizient werde. „Die Angebote sind inhomogen, es ist unklar, was zu bestehenden Angeboten neu dazugekommen ist, was in der Finanzierung langfristig gesichert ist“, kritisierte sie. „Es gibt viele kleine Projekte. Wir brauchen aber eine große Kugel, in der die Angebote gebündelt sind, und aus der sie transparent abgerufen werden können“, forderte Sartorius. 

Quelle: www.aerzteblatt.de, PP 20, Ausgabe Dezember 2021