Bei nur 10% der Kinder mit ADHS verliert sich die Störung im Erwachsenenalter fast vollständig

Die meisten Kinder, bei denen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert wurde, verschwindet die Störung nicht, wie weithin angenommen. Sie manifestiert sich im Erwachsenenalter auf unterschiedliche Weise und nimmt im Laufe des Lebens zu und ab. Dieses neue Bild von ADHS beschreibt eine internationale Studie, die im „American Journal of Psychiatry“ veröffentlicht wurde.

Bisher gingen Experten davon aus, dass das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) in etwa 50% der Fälle im Erwachsenenalter zurückgeht. Diese Schlussfolgerung basiert jedoch typischerweise auf einzelnen Endpunkten, wobei die Entwicklung der ADHS-Symptome im Verlauf eines ganzen Lebens nicht berücksichtigt wird. Die Autoren untersuchten, inwieweit bei Kindern mit ADHS im Erwachsenenalter die Störung ganz wegging und welche Verlaufsunterschiede es gab.

„Es ist wichtig für Menschen, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, zu verstehen, dass es normal ist, dass es in Ihrem Leben Zeiten gibt, in denen die Dinge vielleicht unkontrollierbarer erschienen, und andere Zeiten, in denen sich die Patienten das Gefühl haben, alles besser unter Kontrolle zu haben“, beschrieb die leitende Forscherin Margaret Sibley, außerordentliche Professorin für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der University of Washington School of Medicine und Forscherin am Seattle Children’s Research Institute.
Die Studienautoren aus 16 Institutionen in den Vereinigten Staaten, Kanada und Brasilien sagten, dass die Wissenschaft ADHS jahrzehntelang als eine neurobiologische Störung definierte, die typischerweise in der Kindheit diagnostiziert wird und in etwa 50% der Fälle bis ins Erwachsenenalter hinein andauert. Aber ihre Studie ergab, dass sich nur bei 10% der Kinder die ADHS-Symptome vollständig verlieren.

Unterschiedliche Ausprägung von ADHS in den verschiedenen Lebensphasen

„Obwohl in den meisten Fällen mit Phasen ohne Beschwerden zu rechnen ist, zeigten 90% der Kinder mit ADHS in der multimodalen Behandlungsstudie zu ADHS noch Restsymptome bis ins junge Erwachsenenalter“, schrieben die Studienautoren.

ADHS ist laut Forschern durch zwei Hauptsymptome gekennzeichnet. Die Krankheit zeigt sich durch Desorganisation, Vergesslichkeit und Patienten fällt es schwer, bei einer Aufgabe zu bleiben. Hinzu kommen die hyperaktiven, impulsiven Symptome. Betroffene Kinder scheinen viel Energie zu haben, sie laufen z.B. herum und klettern auf Dinge. Bei Erwachsenen manifestiert es sich eher als verbale Impulsivität, Betroffene tun sich schwer, Entscheidungen zu fällen, und handeln oft, bevor sie denken. Die Störung betrifft Menschen unterschiedlich und sieht unterschiedlich aus, je nachdem, in welcher Lebensphase sich jemand befindet.

Einige Menschen mit ADHS berichten auch davon, dass sie sich extrem gut auf etwas konzentrieren können. Die olympischen Athleten Michael Phelps und Simone Biles haben ihre ADHS-Diagnose offen kommuniziert.
Es gäbe zwar viele Menschen, die ähnliche Probleme haben, wie es ADHS-Betroffene beschreiben, aber tatsächlich von ADHS betroffen seien schätzungsweise 5 bis 10 % der Bevölkerung, verdeutlichte Sibley.

16 Jahre Forschungsarbeit

Diese Studie begleitete eine Gruppe von 558 Kindern mit ADHS über 16 Jahre lang – von 8 bis 25 Jahren. Die Kohorte unterzog sich alle zwei Jahre acht Untersuchungen, bei denen die Experten herausfinden wollten, ob weiterhin ADHS-Symptome erkennbar waren. Die Forscher befragten auch die Familienmitglieder und Lehrer der Teilnehmer zu den Symptomen.
Sibley berichtete, dass der Glaube, dass 50% der Kinder aus ADHS „herauswachsen“, erstmals Mitte der 1990er Jahre entstand. Die meisten Studien, verdeutlichte sie, haben nur einmal im Erwachsenenalter wieder mit den Kindern Kontakt aufgenommen. Die Forscher sahen also nicht, dass die ADHS, von dem sie dachten, dass sie verschwunden sei, tatsächlich zurückkehrt.

Umgang mit ADHS

Forscher müssen noch herausfinden, was das Aufflammen von ADHS verursacht. Sibley erklärte, es könnte Stress, die falsche Umgebung und ein ungesunder Lebensstil ohne ausreichend Schlaf, ohne gesunde Ernährung und ohne regelmäßige Bewegung sein. Wenn sich eine Person nicht die Zeit nimmt, die Symptome zu behandeln und wirklich zu verstehen, was für sie am besten funktioniert, werden die Symptome wahrscheinlich mehr außer Kontrolle geraten, betonte sie.

Medikamente und Therapie sind die beiden wichtigsten Behandlungsmethoden für ADHS. Aber, so Sibley, Menschen können auch ihre eigenen gesunden Bewältigungsfähigkeiten verfolgen.

Die Experten fanden heraus, dass die meisten Menschen, die im Erwachsenenalter nicht mehr die Kriterien für ADHS erfüllen, immer noch einige Spuren von ADHS aufweisen, aber alleine gut zurechtkommen.
„Der Schlüssel ist, einen Job oder eine Lebensaufgabe zu finden, die durch ADHS nicht beeinträchtigt wird“, ergänzte Sibley. „Man sieht viele kreative Menschen mit ADHS, weil sie trotz ADHS in ihrer Kreativität erfolgreich sein können, während Menschen, die den ganzen Tag sehr detailorientiert am Computer arbeiten müssen – das könnte eine wirklich schwere Kombination für einen Menschen mit ADHS sein.“

Sibley mahnte, dass, wenn die Symptome das [Alltags]Leben erschweren, es Zeit sei, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das kann z.B. sein, wenn sich jemand nicht in Bestform fühlt, Probleme mit anderen Menschen hat, Schwierigkeiten hat, sich zurechtzufinden und eine gesunde, langfristige Beziehung aufrechtzuerhalten, und nicht fähig ist, grundlegende tägliche Aufgaben zu erledigen – sei es Elternschaft, den Überblick über die Finanzen zu behalten, oder einfach nur einen organisierten Haushalt zu führen.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 10.09.2021