Epileptische Anfälle kündigen sich wohl nicht durch die bislang angenommenen charakteristischen Veränderungen der Hirnstrom-Muster an. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler der Universität Bonn in einer aktuellen Studie. Die Ergebnisse sind nun in der Zeitschrift „Chaos: An Interdisciplinary Journal of Nonlinear Science“ erschienen.
Bei einem epileptischen Anfall entladen sich gleichzeitig große Nervenzell-Verbünde im Gehirn. Folgen sind dramatische Muskelkrämpfe und Bewusstseinsverlust, die lebensgefährlich sein können. Viele Forscher gehen davon aus, dass das Gehirn zuvor einen so genannten „Kipp-Punkt“ überschreitet, was dann fast zwangsläufig zu einem Anfall führt.
Die Annäherung an diesen Kipp-Punkt soll sich durch charakteristische Veränderungen der Hirnströme ankündigen – so besagt es zumindest eine gängige Hypothese. Einerseits reproduzieren Nervenzellverbünde in der Nähe dieses Punkts demnach ihre eigene Aktivität: Die Hirnströme, die sie erzeugen, ähneln sehr stark denen aus der Vergangenheit. Andererseits reagieren sie auf Störungen mit deutlich stärkeren Entladungen als normalerweise. Zudem dauert es länger, bis sich ihre Aktivität normalisiert. „Wir sprechen auch von einem ‚critical slowing down‘, abgekürzt CSL“, erklärt Prof. Dr. Klaus Lehnertz von der Klinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn.
Der Physiker hat mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Theresa Wilkat und seinem Doktoranden Thorsten Rings nach solchen CSL-Ereignissen gefahndet. Dazu werteten die Forscher Hirnstrom-Aufzeichnungen von 28 Patienten mit medikamentös nicht behandelbaren Epilepsien aus. Die Messungen erfolgten über Elektroden, die an verschiedenen Stellen in das Gehirn der Patienten implantiert worden waren. „Dies dient diagnostischen Zwecken, um etwa die Stelle zu identifizieren, von der die Anfälle ausgehen“, erklärt Lehnertz.
Als Frühwarnsystem ungeeignet
Je bis zu 70 Sonden trugen die Patienten in ihrem Denkorgan. Die Wissenschaftler analysierten jede einzelne der von den Fühlern erfassten EEG-Kurven mit ausgefeilten statistischen Methoden. „Dabei schauten wir nicht nur auf die Stunden direkt vor einem Anfall, sondern betrachteten einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen“, erklärt Wilkat.
Das Ergebnis war ernüchternd: „Wir fanden zwar eine Reihe von CSL-Ereignissen; diese traten aber in der Regel völlig unabhängig von einem Anfall auf“, betont Lehnertz. „Lediglich bei zwei Betroffenen konnten wir einen leichten Bezug zu den nachfolgenden Anfällen beobachten.“ Sein Fazit: Als Frühwarnsystem eigne sich das „critical slowing down“ nicht, auch wenn dies in der Literatur immer wieder so behauptet werde.
Für vielversprechender hält er es, nicht einzelne Stellen im Gehirn zu betrachten, sondern diese als Teile eines Netzwerks zu verstehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Ursache eines Anfalls sei vermutlich eben nicht die Aktivität eines einzigen Nervenzellverbundes, die aus dem Ruder laufe. „Stattdessen gibt es Rückkopplungs- und Verstärkungs-Effekte, die in ihrer Gesamtheit zu dieser massiven temporären Fehlfunktion des Gehirns führen“, betont er. Wenn man diese Vorgänge verstehe, werde man auch bessere Prognose-Verfahren entwickeln können.
Epileptische Anfälle kommen meist wie ein Blitz aus heiterem Himmel, was den Alltag der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Diese dürfen beispielsweise nicht Auto fahren oder bestimmten Tätigkeiten mit hoher Verletzungsgefahr nachgehen. Seit mehr als drei Jahrzehnten bemühen sich daher Mediziner, Physiker und Mathematiker, die gefährlichen Störungen des Gehirns vorherzusagen. Bislang mit durchwachsenem Erfolg: Zwar gibt es Systeme, die Vorboten der Krampfanfälle detektieren können (allerdings anhand anderer Indikatoren als dem „critical slowing down“). Sie funktionieren aber bislang bei etwa der Hälfte der Patienten und sind auch nicht besonders zuverlässig. So erkennen sie längst nicht jeden Anfallsvorboten und neigen außerdem zu Fehlalarmen.
Wissenschaftler rund um den Globus suchen aber nicht nur deshalb nach verlässlicheren Indikatoren, um Betroffene rechtzeitig warnen zu können. Sie hoffen auch, die Attacke durch eine geeignete Intervention im Vorfeld verhindern zu können.
Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 25.10.2019