Kinder und Jugendliche: Medien- und Spielsucht während Corona gestiegen

Computerspiel- und Social-Media-Sucht haben bei Kindern und Jugendlichen in der Coronapandemie einer Studie zufolge zugenommen. Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) kommt in einer Untersuchung im Auftrag der DAK-Gesundheit zu dem Schluss, dass bei mehr als vier Prozent der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland ein pathologisches Nutzungsverhalten vorliegt.

Im Bereich Computerspiele hat sich demnach die Zahl der Betroffenen mit Suchtverhalten von rund 144 000 im Jahr 2019 auf 219 000 in diesem Jahr erhöht, bei der Nutzung von Social-Media-Plattformen wie TikTok, Snapchat, Whatsapp oder Instagram von 171 000 auf 246 000. „Der Anstieg der Mediensucht ist vor allem auf die wachsende Zahl pathologischer Nutzer unter den Jungen zurückzuführen“, sagte Studienleiter Prof. Dr. med. Rainer Thomasius vom DZSKJ des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Er warnte vor den Folgen durch die Vernachlässigung von Aktivitäten, Familie, Freunden und einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus.

Grundlage der Untersuchung ist eine wiederholte Befragung von Eltern und Kindern durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa. Die erste fand im Herbst 2019 vor der Pandemie statt, die zweite zur Zeit der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, eine weitere im November 2020, bevor die Schulen erneut geschlossen wurden und die vierte schließlich im Mai und Juni 2021, als Schulen langsam zu einem Normalbetrieb zurückkehrten.

Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 erhöhte sich der tägliche Konsum auf mehr als drei Stunden täglich. Im November, als Schulen zwar größtenteils offen waren, das Freizeitangebot aber weiterhin stark eingeschränkt war, sank die Nutzung wieder leicht, lag aber immer noch deutlich über dem Niveau von 2019. Das blieb auch in diesem Mai und Juni so.

Die Nutzungszeiten bei Spielen und Social Media unter der Woche und auch am Wochenende lägen immer noch „deutlich über dem Vorkrisenniveau“, sagte Thomasius. Es werde eine weitere Befragung in 2022 angestrebt. Diese könnte zeigen, ob Corona dauerhafte Spuren im Nutzungsverhalten hinterlassen hat.

Quelle: www.aerzteblatt.de, PP 20, Ausgabe Dezember 2021

Sexuelle Gewalt an Kindern: Auch Frauen können Täterin sein

Auch Frauen üben sexualisierte Gewalt an Kindern aus. Das zeigen Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Mehrheit der Personen, die von sexuellem Kindesmissbrauch durch Frauen betroffen sind, berichtete in einer anonymen Online-Befragung davon, dass die sexualisierte Gewalt in der frühen Kindheit begann und über mehrere Jahre andauerte. Häufig wurde die Gewalt von Personen aus dem Familienkreis der Betroffenen ausgeübt. In den meisten Fällen war die eigene Mutter die Täterin. Die beschriebenen sexuellen Handlungen zeigen eine große Bandbreite, die bis hin zu schwerer sexualisierter Gewalt im Kontext der organisierten Kriminalität reicht.

Strategien und Typen von Täterinnen wurden in dem Projekt durch Auswertungen der Berichte an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die das Projekt finanziert hat, ebenfalls untersucht. Es zeigten sich danach vier Typen: die sadistische Täterin, die ein starkes Ausmaß an Gewaltanwendung zeigt, die sogenannte parentifizierende Täterin, die in den betroffenen Kindern und Jugendlichen einen Ersatz für erwachsene Sexualpartner sieht, die vermittelnde Täterin, die betroffene Kinder dritten Tatpersonen zuführt, und die instruierende Täterin, die oft im Kontext von organisierten Gewaltstrukturen auftritt.

 „Die Auswertungen ergaben auch, dass sexualisierte Gewalt durch weibliche Täterinnen für Betroffene und das Umfeld schwerer zu erkennen ist als solche durch männliche Täter. Es wird bei Täterinnen eine subtilere Vorgehensweise und mehr psychische Manipulation berichtet“, sagt Prof. Dr. phil. Johanna Schröder vom UKE. Viele der Betroffenen litten unter posttraumatischen Belastungssymptomen. Die psychischen Folgen des sexuellen Kindesmissbrauchs würden zudem durch Stigmatisierungsprozesse verstärkt.

Quelle: www.aerzteblatt.de; PP 20, Ausgabe Dezember 2021

Autismus: Anscheinend bereits vor dem ersten Geburtstag Anzeichen erkennbar

Eine aktuelle amerikanische Studie dokumentiert nun, dass sich beobachtbare Unterschiede in der sozialen Kommunikation bei Säuglingen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) schon ab einem Alter von 9 Monaten abzeichnen können.

Die Grundlage für Kommunikation mit anderen Menschen ist von Geburt an angelegt. Neugeborene schauen bevorzugt Gesichter an und hier insbesondere die von ihren Bezugspersonen. Im Alter zwischen 9 und 12 Monaten fangen Säuglinge an, mithilfe von Blicken, Mimik, Gestik und Lauten mit anderen in Kontakt zu treten. Es ist bekannt, dass Kinder mit Autismus Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation haben, aber es gibt wenig Erkenntnisse darüber, ob sich diese Probleme schon vor dem Spracherwerb bei kleinen Kindern unter einem Jahr zeigen.

Forschern der University of South Carolina, der Emory University School of Medicine und der Florida State University und von anderen Institutionen veröffentlichten nun eine Studie, die belegt, dass bereits bei Säuglingen ab 9 Monaten Anzeichen für Autismus erkennbar sein können.

„Mit der Sprachentwicklung beginnen normalerweise Eltern von Kindern mit Autismus sich Sorgen zu machen, aber es gibt viele anderer Kommunikationsformen, die sich im ersten Lebensjahr schnell entwickeln, wie Gesten und Laute. Ob vor dem Sprechenlernen kommunikative Entwicklungsschritte erreicht werden oder nicht, kann unbemerkt bleiben“, erläuterte Jessica Bradshaw, Assistenzprofessorin für Psychologie von der University of South Carolina.

Die prospektive Längsschnittstudie zur sozialen Entwicklung fand zwischen 2012 und 2016 statt und umfasste 124 Säuglinge (35% weiblich), die eine familiär bedingt hohe oder niedrige Wahrscheinlichkeit besaßen, an Autismus zu erkranken. Bei den in diese Studie eingeschlossenen Teilnehmern wurde bis zum Studienende entweder Autismus diagnostiziert oder es wurde bestätigt, dass sie sich nach 24 Monaten normal entwickelten.

Nonverbale Kommunikationsfähigkeiten im Fokus

Die Experten bewerteten bei den kleinen Teilnehmer nach 9 und 12 Monaten, welche Kommunikationsfähigkeiten sie entwickelt hatten. Dies beurteilten die Forscher anhand folgender Beobachtungen:

  • Soziale Fähigkeiten: Emotion und Blick, Kommunikation und Gestik
  • Sprachfähigkeiten: Laute
  • Symbolische Fähigkeiten: Verstehen und Objektgebrauch

„Die Ergebnisse zeigen, dass es während dieses Entwicklungsfensters von unschätzbarem Wert sein kann, sich der Veränderungen in der sozialen Kommunikation zwischen 9 und 12 Monaten bewusst zu sein“, kommentierte Professorin Abigail Delehanty von der Duquesne University. Diese Studie liefere Hinweise dafür, dass es sinnvoll sein könnte, schon vor dem ersten Geburtstag mit Förderungen zu beginnen. Säuglinge mit Autismus zeigten weniger sozialkommunikatives Verhalten und erreichten während dieser Zeit in diesem Bereich auch weniger Fortschritte wie gesunde Gleichaltrige, so Delehanty
Diese Studie zeigt, dass Säuglinge, bei denen später Autismus diagnostiziert wird, bereits im Alter von 9 Monaten deutlich weniger soziale und frühe Kommunikationsfähigkeiten aufweisen als ihre sich normal entwickelnden Altersgenossen. Nur drei Monate später, mit 12 Monaten, schnitten Säuglinge mit Autismus bei fast allen Bereichen der vorsprachlichen Kommunikation schlechter ab.

Drei Verhaltensweisen ließen sich bei kleinen Kindern mit Autismus feststellen:

  • Erstens wurde beobachtet, dass die Kommunikation mithilfe von Blicken, Mimik und Lauten von 9-12 Monaten „konstant niedrig“ war.
  • Zweitens verzögerte sich die symbolische Verwendung von Gegenständen (z. B. kreativer Umgang mit Spielzeug). Diese war zwar im Alter von 9 Monaten sowohl bei Kindern mit Autismus als auch bei Kindern ohne Autismus ähnlich, blieb aber bei den Kindern mit Autismus im Altern von 12 Monaten im Vergleich zu Gleichaltrigen weniger weit entwickelt.
  • Schließlich zeigten Kinder mit Autismus beim Gebrauch von Gesten und bei ihrer allgemeinen Kommunikationshäufigkeit eine „wachsende Lücke“.

Diese Ergebnisse deuten auf sehr frühe Unterschiede in der sozialen Kommunikation bei Säuglingen mit Autismus hin, die bereits im Alter von 9 Monaten zu beobachten sind.

Wenn Eltern oder Betreuer über diese Unterschiede informiert wären, gäbe es möglicherweise Möglichkeiten, frühzeitig fördernd einzugreifen, so die Hoffnung von Professorin Amy Wetherby, ebenso Autorin der Studie und Direktorin des Autism Institute in Florida.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 17.12.2021

WICHTIG:

Die Praxis ist aufgrund einer technischen Störung der Telekom nicht per Telefon zu erreichen.

Aus diesem Grund fällt auch die Telefonische Sprechzeit am 14. 12.2021 aus.

Wir sind nur noch eingeschränkt über E-Mail zu erreichen.

Coronavirus-Infektion: Ansteckungsrate bei Kindern und Erwachsenen ähnlich, aber Kinder erkranken seltener

Eine amerikanische Studie zeigt eine relativ hohe Übertragungsrate unter Familienmitgliedern, die in einem Haushalt wohnen, wenn mindestens ein Angehöriger mit dem Coronavirus infiziert ist.

Laut einer aktuellen amerikanischen Untersuchung, die in „JAMA Pediatrics“ veröffentlicht wurde, haben Kinder und Erwachsene ein ähnlich hohes Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, aber ein viel größerer Anteil der infizierten Kinder zeigt keine Symptome. Wenn ein Haushaltsmitglied infiziert ist, besteht eine Wahrscheinlichkeit von 52%, dass es die Infektion an mindestens eine weitere Person überträgt, mit der es zusammenlebt.

Die Ergebnisse basieren auf der Coronavirus Household Evaluation and Respiratory Testing (C-HEaRT)-Studie, die von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Zusammenarbeit u.a. mit Forschern der University of Utah Health, der Columbia University, des Marshfield Virology Laboratory durchgeführt wurde.

„Oft schien es, als wären Kinder nicht krank, weil sie keine Symptome entwickelten“, erklärte Christina Porucznik, Ph.D., Professorin für Public Health an der University of Utah Health, die die Untersuchung von 189 Familien in Utah leitete. „Aber einige waren tatsächlich infiziert und konnten COVID-19 immer noch verbreiten.“

Zu Beginn der Pandemie deuteten Berichte darauf hin, dass Kinder die Minderheit der COVID-19-Fälle ausmachten. Eine Schlussfolgerung war, dass Kinder weniger anfällig für Infektionen seien. Aber der Grund für diese niedrigen Zahlen war, dass Kinder keine Symptome zeigten, daher nicht getestet wurden und so die gemeldeten Fallzahlen deutlich geringer waren als bei den.
Um die Infektionsdynamik besser zu verstehen, verfolgte die C-HEaRT-Studie 310 Haushalte mit einem oder mehreren Kindern im Alter von 0 bis 17 Jahren in Utah und New York City. Mehr als 1.236 Studienteilnehmer reichten wöchentliche Proben von PCR-Tests auf SARS-CoV-2-Infektionen ein und füllten wöchentliche Fragebögen zu Symptomen aus. Im Durchschnitt wurde jede Person 17 Wochen lang beobachtet, und der Bericht umfasste insgesamt 21.465 Personenwochen Überwachungszeit. Die Ergebnisse reichten von September 2020 bis April 2021, bevor die Delta-Variante in den USA auftauchte.

Die Untersuchungen ergaben, dass:

  • Kinder und Erwachsene ab 18 Jahren ähnliche Infektionsraten aufwiesen.
  • Die Infektionsraten innerhalb der Altersgruppen (0 bis 4 Jahre; 5 bis 11 Jahre; 12 bis 17 Jahre) wichen nicht stark voneinander ab. Sie lagen zwischen 4,4 bis 6,3/1.000 Personenwochen.
  • Etwa die Hälfte der infizierten Kinder zeigten Beschwerden, verglichen mit 88% der Fälle bei den Erwachsenen.
  • In Haushalten mit einer oder mehreren infizierten Personen lag das durchschnittliche Haushaltsinfektionsrisiko insgesamt bei 52%.
  • Das durchschnittliche Infektionsrisiko in Haushalten lag in Utah bei 40% und in New York City bei 80%.

Es müssten weitere Untersuchungen durchgeführt werden, die sich damit befassen, welchen Einfluss die Wohnverhältnisse (Wohndichte), der Zeitpunkt des Auftretens der Delta-Variante oder andere Faktoren auf die den Übertragungsraten in den Haushalten haben, so die Autoren.

Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen, dass viele Infektionen bei Kindern unentdeckt bleiben, was die Notwendigkeit von Tests und der Fortsetzung der Sicherheitsmaßnahmen unterstreichen würde, ergänzte Porucznik. „Wir wissen, dass es bis zur Impfung der Kinder immer noch wichtig ist, in Gruppen Masken zu tragen und Abstand zu halten“, betonte sie. „Und vor allem, wenn sie krank sind, sollten Kinder zuhause bleiben.“

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 26.11.2021

Diabetes und Übergewicht: Versorgung psychischer Komorbiditäten schlecht

Die Versorgung psychischer Begleiterkrankungen von Menschen mit Diabetes und Übergewicht ist laut der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) häufig unzureichend. Aber Depressionen und Ess- oder Angststörungen behinderten die Selbstmanagementfähigkeiten immens.

Zum Beispiel träten Depressionen bei Menschen mit Diabetes doppelt so häufig auf wie bei jenen, die nicht unter der Stoffwechselerkrankung litten. „Die beiden Erkrankungen stehen in einer Wechselwirkung zueinander, die dazu führt, dass sie sich bei fehlender Behandlung im Krankheitsverlauf gegenseitig negativ beeinflussen oder sogar eine die andere bedingt“, erläutert die DDG-Expertin und Psychologin Susan Clever.

Menschen mit Diabetes ebenso wie Menschen mit starkem Übergewicht seien zudem Stigmatisierungen ausgesetzt, die sich negativ auf ihren Umgang mit Therapieempfehlungen auswirken könnten. Außerdem erschwerten Essstörungen häufig das notwendige, gesunde, regelmäßige und der jeweiligen Erkrankung angepasste Essen. Essstörungen beeinflussten die jeweilige Grunderkrankung negativ und könnten sogar ein lebensgefährliches Ausmaß annehmen. Auch die Adipositas ohne begleitenden Diabetes werde nur selten in seiner großen Komplexität und mit den häufig verbundenen psychischen Begleiterkrankungen wahrgenommen und behandelt, kritisierte sie.

Vermeintlich einfache Empfehlungen zur Verhaltensänderung und Disziplin wirken laut DDG und DAG eher kontraproduktiv und verstärkten die wiederholte Erfahrung eigenen Scheiterns bei den Betroffenen. „Deswegen bedarf jede psychische Komorbidität bei Diabetes und Adipositas einer begleitenden psychotherapeutischen Behandlung durch Fachpersonal, das mit den Spezifika von Stoffwechselerkrankungen vertraut ist“, so die Expertin. Die entsprechenden Behandlungsangebote seien aber rar. 

Quelle: www.aerzteblatt.de / PP 20, Ausgabe November 2021, Seite 484

Künftige Bundesregierung: Einig für psychisch Kranke

Inzwischen ist klar, welche Parteien die nächste Bundesregierung bilden werden. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP befinden sich kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe in Koalitionsverhandlungen, in denen sie noch einige Konflikte lösen müssen. In Bezug auf die Versorgung psychisch kranker Menschen sind sich die Parteien hingegen vom Grundsatz her einig. Schaut man sich die Bundestagswahlprogramme genauer an, so zeigen sich Unterschiede in der Ausdifferenzierung. Die SPD als größte der drei Parteien begnügt sich in ihrem „Zukunftsprogramm“ in Bezug auf die psychotherapeutische Versorgung mit dem Satz: „Wir werden die ambulante und integrierte psychotherapeutische Versorgung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene stärken, damit sie niedrigschwellig und ohne lange Wartezeiten allen zugänglich ist.“ Die Wartezeiten reduzieren und den Ausbau von Therapieplätzen fördern wollen auch FDP und Grüne mit expliziten Forderungen. Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) sind mindestens 1 600 Praxissitze zusätzlich erforderlich, vor allem in ländlichen und strukturschwachen Gebieten.

Die FDP spricht sich in ihrem Wahlprogramm dafür aus, „mehr Studienplätze für Psychologie und Psychotherapie schaffen“ zu wollen und die „Ausbildung weiterentwickeln“ zu wollen. Die Grünen schreiben: „Bei der unzureichenden Reform der Psychotherapieausbildung muss nachgebessert werden.“ Damit sollte die Forderung der BPtK an die neue Bundesregierung Chancen haben: nämlich die Qualifizierung einer ausreichenden Anzahl von Psychotherapeuten auch in der Zukunft und die finanzielle Sicherstellung der ambulanten und stationären Weiterbildung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Die Grünen wollen die Besonderheiten der Versorgung von Kindern und Jugendlichen, von LSBTIQ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queers), geflüchteten und traumatisierten Menschen sowie gewaltbetroffenen Frauen mehr berücksichtigen. Die FDP setzt auf mehr schulpsychologische Beratungsangebote sowie auf Schulsozialarbeiter an jeder Schule. Die BPtK fordert von der nächsten Bundesregierung spezielle psychotherapeutische Angebote für bildungsferne Familien mit geringem Einkommen.

Die SPD setzt für eine bessere Gesundheitsversorgung auf eine „Überwindung der Sektorengrenzen und eine gute Koordination und Kooperation der medizinischen, psychotherapeutischen und pflegerischen Berufe“. Auch die Grünen wollen dieses Ziel in dieser Legislaturperiode erreichen, formulieren es nur ein wenig anders. Etwas nähergekommen ist man dieser jahrzehntealten Forderung mit der neuen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, laut derer schwer psychisch kranke Menschen künftig strukturierte und koordinierte Hilfe durch Psychotherapeuten und Ärzte erhalten sollen, die sie mit allen nötigen Gesundheitsberufen vernetzen und durch die Versorgung lotsen. Aus der Psychotherapeutenschaft gibt es indes noch Kritik an der Richtlinie (siehe „Es bleiben Hürden“, PP 9/2021). Darüber hinaus fordert die BPtK eine ambulante Versorgung von schwer psychisch kranken Kindern und Jugendlichen, die psychotherapeutisch ausgerichtet ist.

Quelle: www.aerzteblatt.de / PP 20, Ausgabe November 2021, Seite 481

Coronapandemie: Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen

Am Anfang schien COVID-19 eine Pandemie der chronisch kranken und alten Menschen zu sein. Doch nun zeigt sich: Die Schutzmaßnahmen hatten auch auf eine andere Gruppe einen erheblichen Einfluss: auf Kinder und Jugendliche. Jetzt geht es darum, insbesondere den schwer betroffenen jungen Menschen zu helfen.

Lange Zeit lag der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit in der Coronapandemie auf den schwer erkrankten COVID-19-Patienten und den vulnerablen Patientengruppen wie alten und chronisch kranken Menschen. Bei Kindern und Jugendlichen gab es fast keine schweren Verläufe. So befanden sie sich lange unterhalb des politischen und gesellschaftlichen Radars.

Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch sie unter der Pandemie und den angeordneten Schutzmaßnahmen leiden – wenn auch anders als COVID-19-Infizierte. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) wies früh auf das Problem hin. „Die pandemiebedingte soziale Distanzierung zeigt, wie sehr insbesondere Kindern wirkliches soziales Miteinander fehlt“, heißt es in einer Pressemitteilung des Verbandes vom 13. Mai 2020. Homeoffice mit gleichzeitigem Homeschooling vor dem Bildschirm werde oft als stressig und wenig effektiv erlebt. Insbesondere weniger gut situierte Familien seien damit schnell überfordert. „Jetzt werden Lockerungen diskutiert“, schrieb der Verband im Mai 2020. „Hierbei sehen wir, dass Kinder oft keine gesellschaftliche Priorität haben: Sie sind zwar kaum gefährdet und wahrscheinlich weniger ansteckend als befürchtet. Aber sie werden als Subjekte mit eigenen Bedürfnissen schnell vergessen.“

Keine Erholung

Etwa 8,4 Millionen Schülerinnen und Schüler gibt es in Deutschland. Während des ersten Lockdowns blieben sie sieben Wochen im Homeschooling. Zwischen November 2020 und den Sommerferien 2021 verbrachten die meisten von ihnen sieben Monate – je nach Region und Schulklasse – im Homeschooling oder im Wechselunterricht. Und im Stress, wie mehr und mehr Studien zeigen. Eine dieser Erhebungen hat Prof. Dr. phil. Kathinka Beckmann durchgeführt, die an der Hochschule Koblenz unter anderem zum Thema Kinderschutz forscht. Von März bis April 2021 hat sie im Rahmen der Studie „COVID und Wir“ zusammen mit zwei Kolleginnen Interviews an sechs Schulen in drei Bundesländern in den Jahrgangsstufen drei, sechs, acht und zehn durchgeführt. Vorrangiges Ziel des Projekts war es, die jungen Menschen selbst ihre Erfahrungen während der Pandemie in Worte fassen zu lassen.

„Den ersten Lockdown haben die Kinder und Jugendlichen noch als spannend empfunden“, erklärte Beckmann Mitte September auf einem Roundtable der Tribute to Bambi Stiftung und der Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel in Berlin. „Die Schulschließungen im ersten Halbjahr 2021 wurden für sie jedoch zu einer großen Stresssituation. Denn Eltern und Geschwister waren für sie in dieser Zeit oft keine Ressource mehr, sondern eine Belastung. Normalerweise erholen sich die Kinder in der Schule von ihrem Zuhause und umgekehrt. Während den Schulschließungen sind beide Erholungsphasen weggefallen.“

Psychisch belastet

Die erste große Studie zum Befinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland war die COPSY-Studie. Forscherinnen und Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf befragten dafür Schüler und Eltern zunächst von Mai bis Juni 2020 und danach von Dezember 2020 bis Januar 2021. Demnach hat sich die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Verlauf der Pandemie verschlechtert. Während bei der ersten Befragung 71 Prozent der Kinder angaben, psychisch belastet zu sein, machten bei der zweiten Befragung 85 Prozent diese Angabe. Fast jedes dritte Kind litt ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie zudem unter psychischen Auffälligkeiten. Betroffen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund.

Für ihren Kinder- und Jugendreport hat die DAK-Gesundheit die Daten von 800 000 Kindern und Jugendlichen auswerten lassen, von denen im Jahr 2020 zwischen 62 000 und 67 000 stationär behandelt wurden. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Coronapandemie das Krankheitsspektrum deutlich verschoben hat. Angestiegen ist demnach vor allem die Zahl der Kinder, die infolge einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus behandelt wurden: von 172,1 auf 182 je 100 000 Fälle nach dem ersten Shutdown sowie von 58,3 auf 62,7 je 100 000 Fälle im zweiten Shutdown. Auf niedrigem Niveau angestiegen ist zudem die Zahl der Kinder, die wegen Adipositas stationär behandelt wurde: von 4,6 auf 8,3 je 100 000 Fälle nach dem ersten Shutdown und von 1,2 auf 2,2 je 100 000 Fälle während des zweiten Shutdowns.

Der Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Klinikum Bethel, Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld, Prof. Dr. med. Eckard Hamelmann, erinnerte bei der Präsentation des Kinder- und Jugendreports daran, dass es sich bei diesen Zahlen um die stationären Fälle handelt. „Die große Bugwelle, die wir noch erwarten, schlägt im ambulanten Bereich auf“, sagte er. Dabei gebe es eine große Gruppe an chronisch kranken Kindern, die während der Pandemie eine psychische Komorbidität entwickelt habe. „Wir sehen zum Beispiel in den Asthmaambulanzen und in den Diabetesambulanzen Kinder und Jugendliche, mit denen wir vor allem über Stress und Depressionen sprechen und weniger über ihre eigentliche Erkrankung“, so Hamelmann. „Die psychische Belastung dieser Kinder ist hier brutal zu merken.“

Weniger stationäre Fälle

Insgesamt wurden während der Pandemie im Jahr 2020 weniger Kinder und Jugendliche im Krankenhaus behandelt als im Vorjahr. So ging die Zahl der Krankenhausfälle von 11,9 auf 7,7 je 1 000 Fälle während des ersten Lockdowns zurück. Nach dem ersten Lockdown lag die Zahl der Krankenhausfälle mit 43,1 je 1 000 auf dem Niveau des Vorjahrs, um im zweiten Lockdown von 13,8 auf 12,2 je 1 000 Fälle zu sinken.

Dass infolge der Coronapandemie vor allem die psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen angestiegen sind, zeigt sich auch in den Praxen der Kinder- und Jugendärzte. „Wir sehen dabei ein großes Spektrum: auffälliges Sozialverhalten, aggressives Verhalten insbesondere bei Jungs und internalisierendes Verhalten bei Mädchen bis hin zu emotionalen Anpassungsstörungen“, sagt der Präsident des bvkj, Dr. med. Thomas Fischbach, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Ich musste zuletzt mehrere meiner Patienten in eine Jugendpsychiatrie einweisen.“ Viele dieser Kinder hätten ihre innere Mitte verloren. „Sie haben keine Freunde mehr getroffen, keinen Sport gemacht, sie konnten nicht mehr in ihrem Verein aktiv sein“, sagt Fischbach. „Stattdessen mussten sie im Homeschooling lange Zeit vor dem Bildschirm sitzen und haben hinterher vielfach noch am Computer oder am Handy gespielt. Über Jahre haben wir versucht, dysfunktionales Medienverhalten zu reduzieren.“ In der Pandemie sei das auf einmal nicht mehr wichtig gewesen.„Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen werden wir noch lange in den Praxen sehen.“ Thomas Fischbach, bvkj

Auch in der stationären Psychiatrie hat sich das Problem verfestigt. „Als Kliniker stelle ich fest, dass es bei einzelnen Krankheitsbildern einen erheblichen Anstieg gegeben hat, auch hier bei uns in Tübingen“, erklärt Prof. Dr. med. Tobias Renner, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Universitätsklinikum Tübingen, dem . Dabei handle es sich vor allem um Anorexia nervosa, Angststörungen und Depressionen. „Zudem haben wir in Tübingen einen Anstieg der Notfälle zu verzeichnen“, sagt Renner, der auch Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) ist. „Während des zweiten Lockdowns gab es einen Anstieg um 30 Prozent – eine Entwicklung, die sich in diesem Jahr fortsetzt: Von vorher jährlich etwa 300 Notaufnahmen werden wir im Jahr 2021 bei Anhalten der Entwicklung auf über 400 Notaufnahmen kommen. Aktuell haben wir bei uns eine sehr lange Warteliste mit mehr als 100 Patienten, die zum Teil bis zu einem Jahr auf einen Termin warten müssen.“

Permanent gestritten„Wir haben eine Warteliste mit über 100 Patienten, die zum Teil ein Jahr auf einen Termin warten müssen.“ Tobias Renner, Universitätsklinikum Tübingen

Klar ist, dass die Zunahme emotionaler Belastungen und psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit den Schulschließungen während der Coronapandemie zusammenhängen. Doch wie genau? „Zu den Kernerkenntnissen unserer Interviews gehört, dass sich das Zuhause der Kinder und Jugendlichen zu einem Konfliktort entwickelt hat“, sagte Beckmann von der Hochschule Koblenz bei dem Roundtable in Berlin. „Ein 14-jähriges Mädchen hat uns erzählt, dass ihre Eltern eigentlich sehr nett seien. Doch während der Lockdowns habe sich die Familie permanent gestritten.“ Zudem hätten sich die Kinder Sorgen um andere Kinder gemacht, da sie sie nicht gesehen haben und nicht wussten, wie es ihnen geht.

Prof. Dr. phil. Regina Rätz von der Alice Solomon Hochschule in Berlin hat im Rahmen der Studie „Corona und Menschen in den Hilfen zur Erziehung“ während des Sommersemesters 2021 18- und 19-Jährige und ihre Eltern befragt. „In den Interviews haben wir festgestellt, dass die jungen Menschen den hohen Druck, der von außen auf ihnen gelastet hat, zu ihrem inneren Druck gemacht haben“, berichtete Rätz bei dem Roundtable. „Das hat zu existenziellen Ängsten geführt.“

In diesem Sommer hat auch die Politik auf die Probleme der Kinder und Jugendlichen reagiert. Im August hat die Bundesregierung das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ beschlossen, mit dem zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden sollen. Mit einer Milliarde Euro will das Bundesfamilienministerium Angebote im Bereich der frühkindlichen Bildung ebenso schaffen wie zusätzliche Sport-, Freizeit- und Ferienaktivitäten sowie Unterstützung für Kinder und Jugendliche im Alltag. Mit der zweiten Milliarde Euro will das Bundesbildungsministerium Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, Lernrückstände mit zusätzlichen Förderangeboten aufzuholen.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ eingesetzt, die Empfehlungen für Maßnahmen erarbeitet hat, um bestehende, mit der Pandemie verbundene Belastungen für Kinder und Jugendliche abzubauen und künftige Belastungen zu vermeiden. Nach vier Arbeitstreffen im Juli und August hat die IMA nun ihre Empfehlungen vorgelegt, die sich in erster Linie an die Länder und Kommunen richten, aber auch an den Bund und weitere Akteure.

Oberste Priorität hat dabei, flächendeckende Schließungen von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen zu vermeiden. „Es besteht weitgehend Einigkeit in Politik und Wissenschaft, dass flächendeckende Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Schulen oder Streichungen der Angebote in den Sportvereinen und außerschulischen Bildungseinrichtungen im Herbst und Winter auch bei einem weiterhin dynamischen Infektionsgeschehen vermieden werden sollen“, heißt es in den Empfehlungen. Insbesondere für vulnerable Gruppen von Kindern und Jugendlichen sei ein verlässlicher Bildungs- und Betreuungsbetrieb die zentrale Maßnahme, um bestehende Belastungen nicht weiter zu erhöhen, sondern bewältigen zu können.

Präventive Angebote

Den Ländern und Kommunen wird empfohlen, allen Kindern und Jugendlichen das Sporttreiben in Turnhallen und im Freien zu ermöglichen. Weiterhin sollten allen Kindern und Jugendlichen verstärkt präventive Angebote der Gesundheitsförderung zugänglich gemacht werden, um sie bei der Bewältigung der gesundheitlichen Belastungen durch die Pandemie zu unterstützen. Eine besonders umfängliche und gezielte Unterstützung bräuchten dabei Kinder und Jugendliche, die bereits vor der Pandemie erhöhten gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren. Schließlich müsse an Kitas und Schulen ein umfassendes Testangebot zur Verfügung gestellt werden, da viele Kinder noch nicht geimpft werden könnten. Derzeit betreiben oder starten verschiedene Träger überall im Land Projekte, mit denen sie die betroffenen Kinder und Jugendlichen unterstützen wollen: von den Kommunen über Sportvereine bis zu Wohlfahrtsverbänden und Kirchen (Kasten).

„Wir müssen jetzt versuchen, die Kinder und Jugendlichen gezielt vor Ort zu fördern, die während der Pandemie abgehängt wurden“, sagt Fischbach vom bvkj. „Es kommt jetzt darauf an, dass sich Menschen in den Regionen des Themas annehmen.“ Da seien vor allem Mitarbeiter der Kommunen, aber auch die Schulen gefragt, die zum Beispiel versuchen könnten, Lehrerinnen und Lehrer im Ruhestand dafür zu gewinnen, betroffene Kinder zu Hause zu fördern.

„Kinder- und Jugendärzte können neben der direkten Behandlung der Patienten jetzt auch als Vermittler zwischen den verschiedenen Bereichen fungieren, zum Beispiel, indem sie mit den Schulen und Kitas oder mit Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbänden oder Müttercafés sprechen, wenn sie Kinder sehen, die Unterstützung brauchen“, erklärt Fischbach.

Auch Renner vom Universitätsklinikum Tübingen betont die Bedeutung der Vernetzung. „Wir arbeiten eng mit nicht gesundheitlichen Einrichtungen zusammen: mit Schulen, den Jugendämtern und Trägern der Jugendhilfe und suchen aktiv den Austausch. Um diese Zusammenarbeit zu verbessern, laufen zum Beispiel in Baden-Württemberg mehrere Initiativen an, über die internetbasiert der Austausch mit den anderen Einrichtungen gefördert werden soll. Unser Ziel ist es, uns über die Sektorengrenzen hinweg zu vernetzen.“

Darüber hinaus müssten sich als Lehren aus der Pandemie auch die Strukturen in der Versorgung ändern. „Schon vor der Pandemie gab es in manchen Regionen zu wenige Behandlungsplätze für psychisch kranke Kinder und Jugendliche“, sagt Renner. „Durch die Pandemie wurde dieser regionale Mangel weiter verstärkt.“ In manchen Regionen gebe es auch große Probleme, eine Anschlussheilbehandlung im ambulanten Bereich zu finden. „Wenn diese Zeit zu lang wird, besteht natürlich die Gefahr, dass sich der Krankheitsverlauf wieder verschlechtert“, so Renner. „Ich sehe daher auch zukünftig den Bedarf für eine höhere Zahl an niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern.“

Wie kurzfristig auf einen Mehrbedarf in der Behandlung reagiert werden kann, hat vor Kurzem die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) erklärt. „Sofern in bayerischen Regionen ein vorübergehender, pandemiebedingter Mehrbedarf durch die dort bereits zugelassenen, ambulant tätigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten nicht aufgefangen werden kann, besteht die Möglichkeit, zusätzliche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zeitlich befristet in die ambulante Versorgung einzubeziehen“, hieß es aus der KVB. Dafür müssten die Zulassungsausschüsse auf Antrag und nach Prüfung des Bedarfs vor Ort persönliche Ermächtigungen aussprechen.

Zeit und Raum geben

Rätz von der Alice Solomon Hochschule in Berlin hat die Erkenntnisse aus den von ihr geführten Interviews bei dem Roundtable zusammengefasst: „Die jungen Menschen stehen unter einem hohen inneren Druck. Es ist jetzt wichtig, diesen Druck von ihnen zu nehmen.“ Und das gehe nur, wenn man ihnen Zeit gebe. „Bei unseren Interviews haben wir gemerkt, dass die jungen Menschen ein hohes Mitteilungsbedürfnis haben“, sagte Rätz. „Wir haben ihnen den Raum und die Zeit gegeben, um zu erzählen. Aus meiner Sicht braucht es genau das jetzt zum Aufarbeiten der Pandemie: Raum und Zeit zum Erzählen.“ Zudem müssten die Menschen wieder ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit entwickeln, das vielen von ihnen in der Pandemie verloren gegangen sei.

„Einige der Kinder und Jugendlichen, die wir befragt haben, haben einen Appell an die künftige Bundesregierung verfasst“, berichtete Beckmann von der Hochschule Koblenz. „Darin haben sie kritisiert, dass sie nicht gesehen wurden und erklärt, sie hätten sich wie Bürger zweiter Klasse gefühlt. Ich finde es beeindruckend, wie verantwortlich sich Kinder und Jugendliche der Gesellschaft gegenüber gezeigt haben. Und ich finde, dass die Gesellschaft und die Politik diese Leistung bis heute nicht ausreichend gewürdigt haben.“

Wie wird es nach der Coronapandemie weitergehen? „Wir gehen davon aus, dass die psychischen Folgen der Pandemie auch anhalten werden, nachdem die somatische Pandemie vorüber ist“, meint Renner vom Universitätsklinikum Tübingen. „Es ist aber schwer abzuschätzen, ob dies Monate oder Jahre dauern wird. Es wird darauf ankommen, wie wir die psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen nach dem Ende der Coronapandemie im Blick behalten und als Gesellschaft die Bereitschaft haben, ihnen auch langfristig zu helfen.“

Mit Blick auf die nächsten Monate sagt Fischbach vom bvkj: „Zurzeit sind die Praxen der Kinder- und Jugendärzte voll. Das liegt unter anderem daran, dass wir früh im Jahr viele Infektionserkrankungen sehen.“ Auch das sei eine Folge des Shutdowns, denn während des Shutdowns habe sich das Immunsystem der Kinder nicht ausbilden können. Das werde jetzt nachgeholt. „Und auch Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen werden wir noch lange in den Praxen sehen“, meint Fischbach. „Ein bisschen graut es mir deshalb vor dem Winter.“ 

Projekte und Kampagnen

Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat mit finanzieller Hilfe des Bundes das Programm „Ankommen und Aufholen“ auf den Weg gebracht, um die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Schülerinnen und Schüler abzumildern. Mit 430 Millionen Euro will das Land unter anderem zusätzliches Personal einstellen, um die Schüler individuell zu fördern, und Lernangebote außerhalb der Schulzeit machen. Zusammen mit dem Landessportbund wurde das Programm „Extra-Zeit für Bewegung“ aufgelegt, mit dem 4 000 Angebote insbesondere von Sportvereinen gefördert werden können.

Die Deutsche Sportjugend hat zusammen mit dem Bundesfamilienministerium eine Bewegungskampagne begründet, mit der Kinder und Jugendliche an bestimmten nationalen Aktionstagen für Sport in der Gemeinschaft interessiert werden sollen.

Da die meisten Auslandsfahrten abgesagt wurden, hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland zum Sommerbeginn alle Kirchengemeinden der Region dazu aufgerufen, ihre Pfarrgärten und Gemeindehäuser für Jugendgruppen zur Verfügung zu stellen, die in den Ferien Radtouren machen. Auf diese Weise sollten die Jugendlichen wieder Gemeinsamkeit erleben.

Quelle: www.aerzteblatt.de/ PP 20, Ausgabe November 2021, Seite 488

Virtual-Reality in der Psychotherapie: Anwendungen mit klinischem Potenzial

Das Forschungsfeld ist bereits über 25 Jahre alt. Während zu Beginn vor allem der Einsatz bei Phobien untersucht wurde, hat die Forschung inzwischen auch Erkenntnisse zur Effektivität in der Behandlung weiterer Störungsbilder gesammelt.

Virtuelle Realitäten (VR) ermöglichen die Interaktion mit einer computergenerierten, dreidimensionalen Umgebung in Echtzeit. Die Beobachtung, dass virtuelle Reize reale Ängste auslösen, die von physiologischen Symptomen wie erhöhtem Blutdruck und Schwitzen begleitet werden, führte bereits vor 25 Jahren zu dem Versuch, VR als Ergänzung der konventionellen Expositionstherapie bei Angststörungen zu nutzen. In der herkömmlichen Expositionstherapie geschieht diese Konfrontation entweder in der Realität (Exposition In-vivo) oder durch die reine Vorstellung einer solchen Situation (Exposition In-sensu). Die Anwendung von VR stellt somit einen Mittelweg zwischen dem Erleben und der Vorstellung angstauslösender Reize dar.

Dass Menschen virtuelle Umgebungen als real erleben und diese somit therapeutisch nutzbar sind, bedingt zwei Voraussetzungen, die unter den Begriffen „Immersion“ und „Präsenz“ gefasst werden. Immersion beschreibt die objektiven Merkmale der Medienumgebung wie zum Beispiel die visuelle, auditive und taktile Darstellung der virtuellen Umgebung in Dreidimensionalität sowie die synchrone Interaktivität mit dem computergenerierten Modell mithilfe Gestik, Mimik, Sprache oder Körperposition. Spezifische Outputsysteme (zum Beispiel Datenbrille) ermöglichen die Wahrnehmung der virtuellen Umgebung, spezifische Inputsysteme (zum Beispiel Datenhandschuh, Spracherkennungssysteme, Positionsbestimmungssysteme, Systeme zur Blickrichtungserkennung) die Kommunikation mit ihr. Das Präsenzerleben hingegen beschreibt das damit einhergehende subjektive Gefühl, dass man sich selbst in der virtuellen Umgebung befindet und diese Umgebung real ist. Merkmale sind ein Gefühl, sich selbst „dort“ zu befinden, das Ausblenden von Reizen aus der realen Welt und unwillkürliche Körperbewegungen, die objektiv keinen Sinn ergeben. Ein Beispiel wäre das „in die Knie gehen“, um sich bei der Überquerung einer virtuellen Brücke über einem virtuellen Abgrund am realen Fußboden abzusichern.

Störungsbilder

Die psychologische Grundlagenforschung hat in den vergangenen Jahren wesentlich zum Verständnis des Präsenzerlebens in virtuellen Umgebungen beigetragen. Mittlerweile konnte eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungsansätze zeigen, dass virtuelle Umgebungen sehr gut in der Lage sind, der Nutzerin oder dem Nutzer Sinneserfahrungen, Emotionen und Interaktionen so zu evozieren, dass sie oder er sie nicht von realen Erlebnissen unterscheiden kann.

Die Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung hat inzwischen für eine Reihe von Störungsbildern den Einsatz von VR untersucht. Während vor allem unter verhaltenstherapeutischer Perspektive die Wirksamkeit erforscht wurde, liegen inzwischen auch dezidiert psychoanalytische Betrachtungen vor.

Im Folgenden werden ausgewählte frühe Studien mit aktuellen Befunden für verschiedene Störungsbilder kontrastiert.

Angststörungen: Frühe Metaanalysen zeigten, dass VR-Behandlungen bei Angststörungen hoch effektiv (im Vergleich zur Wartekontrollgruppe: mittleres d = 1,11) und mindestens so wirksam wie In-vivo-Therapie (mittleres d = 0,34) sind. Eine aktuelle Metaanalyse mit 30 Studien (Spezifische Phobien: 14 Studien, Soziale Phobie: 8 Studien, PTBS: 3 Studien, Panikstörung: 3 Studien) und 1 057 Probandinnen und Probanden belegt ebenso eine mittlere bis große Effektgröße für VR im Vergleich zu psychologischen Placebobedingungen (g = 0,78). Im Vergleich von VR und In-vivo-Bedingungen konnten keine signifikant unterschiedlichen Effektstärken (g = 0,07) gefunden werden. Vergleichsweise neu in der VR-Forschung ist die Berücksichtigung von negativen Behandlungseffekten, denen sich zum Beispiel Fernández-Álvarez et al. 2019 widmeten. Sie zeigten, dass die Verschlechterungsraten bei VR und traditionellen Behandlungen gleich hoch sind.

Während die allerersten randomisiert-kontrollierten Studien sich auf die VR-unterstützte Expositionstherapie von Menschen mit Höhenangst bezogen und alsbald durch Metaanalysen erhärtet wurden, so geht der Trend heute dahin zu untersuchen, ob auch eine vollständig selbstgesteuerte, auf einer App basierende kognitive Verhaltenstherapie (KVT) in virtueller Realität Erfolg versprechend ist. Donker et al. untersuchten im Jahr 2019 die App ZeroPhobia: Die Module nahmen zwischen 5 und 40 Minuten in Anspruch. Die Teilnehmenden wurden gebeten, die gesamte Intervention innerhalb von drei Wochen in ihrer natürlichen Umgebung zu absolvieren. Neben der Psychoedukation und den KVT-Techniken umfasste die VR-KVT-App eine spielerische immersive VR-Umgebung und vier 360-Grad-Videos, die das gesamte Expositionsspektrum abdeckten. Die Teilnehmenden nutzten die VR und die 360-Grad-Videos ab dem dritten Modul und navigierten mithilfe der Blicksteuerung durch die virtuelle Umgebung. In einer randomisiert-kontrollierten Studie mit 193 Teilnehmenden zwischen 18 und 63 Jahren konnte eine signifikante Verringerung der Akrophobie-Symptome beim Posttest nach drei Monaten für die VR-App im Vergleich zur Kontrollgruppe (d = 1,14) verzeichnet werden, sodass die Autorinnen und Autoren zu dem Schluss kommen, dass eine App mit einer rudimentären Virtual-Reality-Brille zu einer starken Verringerung der Akrophobie-Symptome führt.

Auch die Flugangst, die häufig mit schwerwiegenden wirtschaftlichen, sozialen, beruflichen und emotionalen Folgen einhergeht, zählt zu den ersten Phobien, die in der VR-Forschung untersucht wurde. Während frühe Studien schon zeigten, dass nach der VR-Exposition die Teilnahme an einem Anschlussflug für den langfristigen Therapieerfolg wichtig ist – wobei die Begleitung durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten wenig Einfluss hatte, belegt eine aktuelle Studie die Wirksamkeit auch nochmals für langfristige Effekte. In einer retrospektiven Befragung von Patientinnen und Patienten mit VR-Therapie (von 209 erklärten sich 98 zur Teilnahme bereit) wurden als Ergebnisgrößen die Flugaktivitäten vor und nach der Behandlung (Belege: Bordkarten) wie folgt erfasst: 1. die Anzahl der Flüge pro Monat (FpM) und 2. die Anzahl der Flugstunden pro Monat (FHpM). Für alle Teilnehmenden wurden diese Ergebnisse für den Zeitraum nach der VR-Behandlung (≥ 6 Monate) und den entsprechenden Zeitraum vor der Behandlung berechnet. Im Ergebnis zeigte sich, dass FpM und FHpM im Vergleichszeitraum signifikant anstiegen.

Bezüglich der VR-Anwendung bei der Sozialen Phobie kamen Emmelkamp et al. in einem aktuellen Review zu dem Ergebnis, dass die meisten Studien zur Redeangst existieren. Nur sehr wenige Studien hätten die Soziale Phobie untersucht, von denen die meisten eine Mischung von VR beziehungsweise In-vivo-Exposition und kognitiver Verhaltenstherapie anwendeten, sodass unklar bliebe, wie hoch der Effekt von VR ist. Hier wurden keine Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen festgestellt. Die reine Wirkung von VR als alleinige Behandlung sei nur in einer randomisiert-kontrollierten Studie untersucht worden, wobei VR der Exposition In-vivo hier nicht überlegen war. Die Autorin und Autoren kommen zu dem Schluss, dass ein deutlicher Bedarf an Studien besteht, die die Wirksamkeit von VR als eigenständige Behandlung und die beteiligten therapeutischen Prozesse untersuchen, bevor diese Therapie in der klinischen Routinepraxis verbreitet werden kann.

Bereits vor 20 Jahren wurde auch die VR-Therapie bei Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) erforscht, hier vor allem bei man-made-disastern wie dem Terrorangriff auf das Word-Trade-Center in New York 2001 oder bei Soldaten nach Kriegseinsätzen. Kothgassner et al. führten 2019 ein Review durch mit dem Ziel, die Wirksamkeit von VR bei PTBS im Vergleich zu Wartelisten- und aktiven Vergleichsgruppen zu untersuchen (9 kontrollierte Studien mit 296 Teilnehmenden). Im Vergleich zur Warteliste zeigte VR ein signifikant besseres Ergebnis für PTBS-Symptome (g = 0,62) und depressive Symptome (g = 0,50). Bei den PTBS-Symptomen (g = 0,25) und den depressiven Symptomen (g = 0,24) gab es nach der Behandlung keinen signifikanten Unterschied zwischen VR und den aktiven Vergleichsgruppen. Somit könne VR bei PTBS-Betroffenen ebenso wirksam sein wie aktive Vergleichstherapien; dabei besteht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung (mehr VR-Sitzungen zeigten größere Effekte). Einschränkend gilt jedoch, dass nur eine begrenzte Anzahl von Studien bei einer engen Auswahl an traumatischen Situationstypen und selektive Stichproben (meist männliche Militärangehörige) vorliegen, es keine längerfristigen Katamnesen gibt (maximal 3 Monate [17]) und ebenso keine Erfassung von Nebenwirkungen erfolgte. Diese könnten zum Beispiel in der Gefahr einer erneuten Traumatisierung bestehen, wenn die VR-Umgebung die traumatische Situation der oder des Betroffenen nicht genau abbildet oder auch zu einer Retraumatisierung führen, wenn vor der VR-Exposition keine ausreichende Stabilisierung erfolgte.

Psychotische Erkrankungen: Die Einsatzgebiete von VR bei psychotischen Erkrankungen sind nicht nur sehr vielfältig, sondern auch die Arten von Studien waren hier im Vergleich zu den anderen psychischen Erkrankungen wahrscheinlich am heterogensten, was die Komplexität des klinischen Problems und die unterschiedlichen Perspektiven auf die Diagnose und das Verständnis der Psychose widerspiegelt. Die Arbeitsgruppe um Daniel Freeman, Department für Psychiatrie der Oxford Universität, leistete Pionierarbeit bei der Arbeit mit VR im Zusammenhang mit Paranoia. VR wurde eingesetzt, um Paranoia zu bewerten, die individuellen Merkmale zu verstehen, die Paranoia voraussagen, psychologische Faktoren zu manipulieren, um die Ursachen von Paranoia zu ermitteln und um Verfolgungswahn im Kontext von Schizophrenie zu behandeln. Somit hat sich VR bei der Beurteilung von Paranoia als besonders nützlich erwiesen, da durch die Darstellung neutraler sozialer Situationen eher unbegründete als echte Feindseligkeit erkannt werden kann. Eine Behandlungsstudie der Arbeitsgruppe mit 30 Patientinnen und Patienten mit Wahnvorstellungen zeigte, dass die kognitive VR-Therapie potenziell viel wirksamer ist als die VR-Expositionstherapie, sowohl in Bezug auf die Verringerung der Wahnvorstellungen als auch auf die Verringerung des Leidensdrucks in realen Situationen. Ein eindrückliches Video zur Illustration findet sich unter https://www.youtube.com/ watch?v= 1t4_uXr9YiY.

Allerdings existiert noch keine Studie zu der Compliance mit VR von schizophrenen Patientinnen und Patienten.

Essstörungen: Es gibt verschiedene Anwendungsbereiche von VR in der Behandlung von Essstörungen: Verringerung des Essensverlangens, Verbesserung des Körperbildes und Verbesserung der Fähigkeiten zur Emotionsregulation. Im Vergleich zu den anderen oben genannten Störungsbildern gibt es in diesem Bereich vergleichsweise wenige methodisch solide Studien.

Geeignete VR-Umgebungen können Heißhunger auslösen, wobei die Reaktionen auf VR-Lebensmittel mit denen auf reale Lebensmittel vergleichbar sind. Mittels VR können also kritische Situationen (Küche, Supermarkt oder Restaurant) nachgestellt werden. Ziel ist es, in Verbindung mit kognitiv-behavorialen Therapiemethoden Coping-Strategien zu entwickeln, um mit negativen Emotionen, die mit dieser Situation verbunden sind, umzugehen. Erste Studien belegen, dass VR-Techniken, die der einer Standard-KVT hinzugefügt werden, zur Verbesserung des Körperbildes beitragen.

Weitere Störungen: Experimentiert wurde in sehr vereinzelten Studien auch mit der Integration von VR in die Behandlung von Depression und stoffgebundenen sowie nichtstoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen. Die Beobachtung, dass VR-Umgebungen ein starkes Craving hervorrufen können (für das Verlangen nach Zigaretten siehe zum Beispiel [24]), bedeutet, dass VR das Potenzial hat, erfolgreich in der Suchtbehandlung eingesetzt zu werden, auch wenn dies noch nicht rigoros nachgewiesen wurde. Barbe et al. zeigen in einem aktuellen Review, dass VR mittlerweile auch in der forensischen Psychiatrie ein vielversprechendes Werkzeug sein kann, welches bereits etablierte Instrumente ergänzen oder erweitern kann. Sie geben aktuelle Studienbeispiele zur klinischen Behandlung und Diagnose von Patientinnen und Patienten sowie der forensischen Prognose und Therapie von straffälligen Personen.

Chancen und Grenzen

VR-basierte Therapien gehen mit einer Reihe von Vorteilen einher, bergen aber auch Gefahren, die von der therapeutischen Fachkraft reflektiert werden müssen. Während in der Literatur vor allem aus praktischer Sicht Vorteile für Diagnostik und Intervention wie ökologische und personalisierte Interventionen und eine größere Verbreitung evidenzbasierter Behandlungen genannt werden, liegen nur für wenige Aspekte auch empirische Evidenzen vor. Während man zum Beispiel erhoffte, dass die Bereitschaft, sich überhaupt mit angstbesetzten Reizen auseinanderzusetzen, bei der VR höher ist als bei In-vivo-Expositionen, so weiß man heute, dass Therapieabbrüche in beiden Bedingungen gleich hoch sind (Benbow AA, Anderson PL: A meta-analytic examination of attrition in virtual reality exposure therapy for anxiety disorders. Journal of anxiety disorders 1. Januar 2019; 61: 18–26.).

Fazit

Es liegen eine Reihe von Studien vor, die die Wirksamkeit von VR in der Behandlung bei verschiedenen psychischen Störungen belegen. Der Evidenzgrad ist bei Angststörungen und hier vor allem bei umschriebenen Phobien am höchsten. Allerdings sind die vorliegenden Studien in der Regel so angelegt, dass sie Komorbiditäten ausschließen, was die klinische Wirklichkeit nicht widerspiegelt. Die vorliegenden Studien integrieren VR typischerweise in KVT-Behandlungen. Es stellt sich die Frage, ob diese Anwendungen zum Beispiel auch in psychodynamische Therapien eingebunden werden können. Hierbei gilt ganz allgemein, dass Medienunterstützung und damit auch VR als therapeutisches Adjuvant möglich ist, wenn zum einen das Primat der Beziehung vor dem Technikeinsatz beachtet wird und Kriterien für Indikation/Kontraindikation in die Entscheidung miteinfließen – wie unter anderem die individuelle Medienbiografie, das Strukturniveau und die Persönlichkeitsakzentuierung. Wiederhold, Gavshon und Wiederhold reflektieren die containende Umgebung von VR im Sinne der „holding function“ nach Bion, mithilfe derer progressive Entwicklung in Richtung Entwicklung neuer Skills möglich ist. Gleichzeitig könne die VR-Umgebung ein transformierendes Objekt sein, das intrapsychische Veränderungen ermöglicht, indem Erfahrungen in einem sicheren Raum (innerlich: Ich-Defizite reparieren, äußerlich: Bewältigung der Symptome/Angst) ermöglicht werden. Gleichzeitig ist die doppelte Übertragungsbeziehung zu beachten, die sich zur therapeutischen Fachkraft und zur VR einstellt.

Für die weitere Entwicklung und Erforschung des therapeutischen Potenzials von VR sind zum einen langfristige Katamnesen nötig sowie die Untersuchung von Persönlichkeitsvariablen (zum Beispiel Einstellungen gegenüber der Technik, Realitäts- und Identitätsverständnis, Imaginationsfähigkeit) als mögliche Moderatoren für die Wirksamkeit. Ein neues Forschungsfeld ist zudem die „Social VR“, das zum Beispiel danach fragt, ob jemand in einer VR-Expositions-Therapie davon profitieren kann, eine Avatar-Therapeutin oder einen Avatar-Therapeuten zu beobachten, die oder der nichtphobische Reaktionen modelliert.

Insgesamt wird in VR nicht nur ein klinisches Potenzial gesehen, sondern auch ein neues Paradigma für die Grundlagenforschung, Theoriebildung und Ausbildung. Wichtig ist daher eine umfassende Verständigung zwischen Forschung und Praxis, zumal bisher kein breiter Transfer von VR in das psychotherapeutische Versorgungsangebot stattgefunden hat – was wohl auch an einem geringen Wissen über VR in der psychotherapeutischen Anwendung liegt.

Quelle: www.aerzteblatt.de, PP 20, Ausgabe November 2021, Seite 515