Frühzeitiges Erlernen der Selbstbeherrschung wirkt sich positiv auf den späteren Bildungserfolg aus

Eine Studie der Universitäten Zürich und Mainz hat gezeigt, dass sich das Erlernen der Selbstbeherrschung bzw. der Selbstregulation in der Grundschule langfristig positiv auf den späteren Bildungserfolg auswirkt. Dies umfasst die Fähigkeit eines Kindes, seine Aufmerksamkeit und seine Impulse beherrschen und steuern zu können.

Selbstregulation, also die Fähigkeit, Aufmerksamkeit, Gefühle und Impulsen zu kontrollieren, sowie die Fähigkeit, individuelle Ziele beharrlich zu verfolgen, ist etwas, das kleinen Kindern in der Regel noch schwerfällt. Doch die pandemiebedingten Schulschließungen und die verstärkte Nutzung digitaler Medien durch Kinder haben nun gezeigt, wie wichtig diese Fähigkeiten gerade für Kinder sind.

Studien belegen, dass Menschen, die als Kinder Selbstregulierung beherrschen, im Durchschnitt ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit und eine größere Lebenszufriedenheit aufweisen. Sie kommen auch zu dem Schluss, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation bereits im Kindesalter gezielt trainiert werden kann.

Selbst bei kurzen Trainingseinheiten verbessert sich die Selbstregulation
Ein internationales Team des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich (Schweiz) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Deutschland) wollten klären, ob Selbstregulation Kindern ohne viel Zeitaufwand beigebracht werden könne. Anhand einer randomisierten kontrollierten Studie in Grundschulen mit mehr als 500 Erstklässlern konnte das Forschungsteam nachweisen, dass bereits eine kurze Trainingseinheit zu einer deutlichen und nachhaltigen Verbesserung der Selbstregulation führte. Das Training wirkte sich nicht nur auf die Selbstregulationsfähigkeit aus; die Kinder hatten ein Jahr nach der Ausbildung eine deutlich verbesserte Lesefähigkeit, vermieden viel besser Flüchtigkeitsfehler und wurden drei Jahre nach der Ausbildung auch deutlich häufiger auf ein Gymnasium bzw. eine höhere Schule aufgenommen.

Die Studie der Expert:innen aus der Schweiz und Deutschland hat gezeigt, wie die Ausbildung dieser Fähigkeit frühzeitig explizit in den Grundschulunterricht eingebettet werden kann. Eine Steigerung der Selbstregulation befähigt Kinder, mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen und sich selbst Ziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten.

Einfach in den regulären Stundenplan einbaubar

Aufgrund von Bedenken aus der bisherigen Praxis haben die Studienautoren und -autorinnen die Trainingseinheiten äußerst kosten- und zeitsparend gestaltet, sodass sie in jedem Grundschulsetting eingeführt werden können: Die Trainingseinheit dauerte nur fünf Stunden, und Lehrer:innen nahmen an einer dreistündigen Schulung teil und erhielten fertig entwickelte Unterrichtsmaterialien, die sie direkt in den regulären Unterrichtsablauf integrieren konnten.

Die Trainingseinheiten basierten auf der MCII-Strategie („Mental Contrasting with Implementation Intentions“), die bereits Gegenstand hervorragender Forschungsstudien bei Erwachsenen und älteren Schülern war. Die abstrakte Strategie wurde von den Lehrkräften spielerisch anhand eines Bilderbuchs und dem Vorbild eines Hürdenspringers vorgestellt. In einem ersten Schritt stellten sich die Kinder die positiven Auswirkungen einer Zielerreichung vor. Sie stellten ihnen die Hindernisse gegenüber, die ihnen auf dem Weg begegnen könnten („Mental Contrasting“). Die Kinder identifizierten dann spezifische Verhaltensweisen, um den Hindernissen zu begegnen, und entwickelten „Wenn-dann“-Pläne („Umsetzungsabsicht“).

Positive Wirkung auf die Gesellschaft

„Das Besondere an unserer Studie sind die langfristigen Nachwirkungen, die diese kurze Trainingseinheit haben kann. Diese Effekte kommen dem Kind zugute und übertragen sich im Laufe des Lebens in vielfältiger Weise auf die Gesellschaft als Ganzes“, betonte Erstautor Daniel Schunk, Professor für Public and Behavioral Economics an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Dass frühe Investitionen in solch grundlegende Fähigkeiten nicht nur dem Kind allein, sondern auch der Gesellschaft zugutekommen, sollte in der Bildungspolitik stärker berücksichtigt werden.“

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 10.02.2023

Intervallfasten: Gefahr des Übergangs zu Essstörungen beachten

Kanadische Forscher:innen haben bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Intervallfasten praktizieren, eine Neigung zu Essstörungen beobachtet. Insbesondere bei weiblichen Teilnehmerinnen war das Intervallfasten häufig mit Überessen, Essanfällen, Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln verknüpft.

Männliche Intervallfasten-Anhänger neigten im Vergleich zu nicht fastenden Probanden eher zu zwanghaftem Training bzw. Sportsucht und zu Essstörungen. „Wollen Jugendliche abnehmen, empfehlen sich Programme, die extra für diese Altersgruppe zugeschnitten sind und die mehr Bereiche erfassen, um eine Lebensstilveränderung und Normalisierung des Gewichts zu erzielen. Bewegung, Ernährungswissen und Ernährungsverhalten gehören dazu“, rät Dr. Monika Niehaus, Kinder- und Jugendärztin und Mitglied des Expertengremiums vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Gerade in der Wachstumsphase müssen Heranwachsende ausreichend mit Nährstoffen versorgt sein. Beim Intervallfasten verzichten Menschen für bestimmte Zeiträume auf das Essen. Die Fastenintervalle können von bestimmten Tageszeiten bis zu bestimmten Wochentagen reichen. So kann das Essen beispielsweise tagsüber auf einen Zeitraum von 6 Stunden beschränkt sein, während 18 Stunden keine Nahrung verzehrt wird. Ein Argument gegen das Intervallfasten ist, dass viele klinische Studien keine deutliche Verbesserung des Intervallfastens gegenüber einer Einschränkung der Kalorienaufnahme gezeigt haben. Da bei dieser Ernährungsumstellung über längere Zeit keine Nahrung aufgenommen wird, kann eine Unterzuckerung auftreten. Falls der Körper nicht genug Protein erhält, kann auch Muskelschwund die Folge sein.

Eine umfangreiche polnische Übersichtsarbeit, die mehrere Studien (23 Abnehmprogramme mit 1587 Kindern) zu diesem Thema ausgewertet hat, kommt zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Gewichtsnormalisierung bei Kindern und Jugendlichen am besten mit einer Kombination aus Diät und körperlicher Aktivität, der Beteiligung eines Ernährungsspezialisten/einer Ernährungsspezialistin und eines Arztes/einer Ärztin im Behandlungsteam und einer längeren Interventionsdauer zu erreichen sei. Positiver Nebeneffekt ist demnach, dass eine Abnahme des BMI meist mit einer Verbesserung der Blutfettwerte und des Blutdrucks verbunden ist. „Eine Reha kann bei starkem Übergewicht zu längerfristigen Änderungen verhelfen. Bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer speziellen Kinder- und Jugend-Rehaklinik lernen Kinder u.a. ein ‚gesundes‘ Ess- und Bewegungsverhalten und wie sie positive Veränderungen auch über die Reha hinaus in den Alltag einbauen können. Der Kinder- und Jugendarzt bzw. die Kinder- und Jugendärztin kann Eltern bei einem Antrag helfen“, so Dr. Niehaus.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 01.02.2023

Alkoholmissbrauch als Jugendlicher zeigt noch zwei Jahrzehnte später Auswirkungen

Finnische Forscher:innen konnten in einer Zwillingsstudie nachweisen, dass sich starker Alkoholkonsum als Jugendlicher noch später im Erwachsenenalter bis zum Alter von 34 Jahren bemerkbar macht, und dies unabhängig von erblichen Veranlagungen.

Jugendliche leiden demnach als junge Erwachsene verstärkt unter Lebensunzufriedenheit, Gesundheits- und Alkoholproblemen. Die Gesundheitsprobleme können den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zufolge zum großen Teil auch mit einer weiter bestehenden Alkoholsucht zusammenhängen. „Dass vermehrter Alkoholkonsum in jungen Jahren das Risiko für späteren Missbrauch erhöht, ist schon länger bekannt. Die genauen Mechanismen sind noch nicht vollständig erforscht. Studien legen nahe, dass Alkoholkonsum in jungen Jahren die Belohnungsreaktion des Dopaminsystems auf Alkohol bis ins spätere Leben verstärkt und so Menschen längerfristig anfälliger für Alkoholsucht macht“, erklärt Prof. Dr. Hans-Jürgen Nentwich, Kinder- und Jugendarzt sowie Mitglied des Expertengremiums beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Wer im Alter von 12 Jahren beginnt, Alkohol zu trinken, hat ein um 41% erhöhtes Risiko, später unter Alkoholsucht zu leiden – verglichen mit 17% und 11% für diejenigen, die im Alter von 18 bzw. 21 Jahren damit anfangen.

Kritische Entwicklungsphase

Die Jugendjahre sind eine besonders anfällige neurologische Entwicklungsphase. „Bis zu einem Alter von Anfang zwanzig kann das jugendliche Gehirn brauchen, bis es vollständig ausgereift ist. Starker Alkoholkonsum wirkt sich besonders negativ auf die noch stattfindende Gehirnentwicklung aus. Schlechtere Impuls- und Aufmerksamkeitskontrolle, Probleme beim Lernen, Gedächtnisschwierigkeiten sind die Folge“, so Professor Nentwich. Der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge tranken 2021 8,7% der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen regelmäßig, also mindestens einmal wöchentlich, Alkohol. 2004 waren es noch 21,2%. Es gibt Hinweise darauf, dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen seit der Jahrtausendwende in fast allen Ländern mit hohem Einkommen zurückgegangen ist. Länder mit einer kritischeren Haltung gegenüber Alkohol, restriktiver Politik und einem stärkeren Fokus der öffentlichen Gesundheit auf Suchtvorbeugung haben den frühesten und steilsten Rückgang beim jugendlichen Alkoholkonsum erlebt Eine der vielversprechenderen Erklärungen für den Rückgang des Alkoholkonsums bei Jugendlichen sei auch eine Veränderung hin zu einer engagierteren Elternschaft, vermuten australische und schwedische Experten und Expertinnen in einer Überblicksarbeit zu diesem Thema im „European Journal of Public Health“.

Eltern haben bei Jugendlichen immer noch Einfluss

Eltern sollten sich der Bedeutung von Regeln in der Familie bewusst sein und klar äußern, dass sie Drogenkonsum missbilligen. Schwedische und italienische Forscher:innen kamen in einer in„Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology“ veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass Jugendliche, deren Eltern in Bezug auf Alkoholkonsum oder Zigarettenrauchen freizügig waren, ein doppelt so hohes Risiko hatten, später zu Drogen zu greifen, verglichen mit Jugendlichen, deren Eltern eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber Suchtmitteln einnahmen. Die Experten und Expertinnen analysierten Längsschnittdaten von 3.171 12- bis 14-jährigen Schülern aus 7 europäischen Ländern.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 1.01.2023

Jugendliche und junge Erwachsene: Normales wird pathologisiert

Fragwürdige Selbstdiagnosen und gefährliches Coaching in sozialen Netzwerken, vor allem über Tiktok, nehmen zu. Manche psychischen Erkrankungen werden so quasi über Nacht zu einem regelrechten Hype gemacht. Das birgt Gefahren.

Pubertät und frühes Erwachsenenalter sind Lebensphasen, in denen junge Menschen sich selbst suchen. Sie wollen wissen, wer sie sind, was sie ausmacht und was es bedeutet, wenn sie sich mal so und mal anders fühlen. Daher suchen sie häufig im Internet nach Antworten und Erklärungen, insbesondere in bestimmten Online-Foren, in Social Media und auf Videoplattformen. Dort stoßen sie unweigerlich auf Blogs, Texte und Videos, in denen zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene von ihren psychischen Erkrankungen berichten. Diese wurden jedoch oft nicht von einem Psychotherapeuten oder Psychiater, sondern von ihnen selbst diagnostiziert.

Die „Finger-Methode“

Um zu einer Selbstdiagnose zu gelangen, werden unter anderem Videos angeschaut, in denen Fachleute, Laien und Betroffene psychische Störungen beschreiben oder entsprechende Symptome vorführen, es wird nach (Fach-)Artikeln gesucht und es werden Anleitungen zu Selbstdiagnosen befolgt, die im Netz kursieren und nicht selten von jungen Laien „entwickelt“ wurden wie etwa die „Finger-Methode“: Dabei zeigt der selbst ernannte Experte dem Zuschauer mehrere ausgestreckte Finger und fordert ihn auf, ebenfalls seine Finger auszustrecken. Jeder Finger entspricht einem Symptom einer bestimmten psychischen Störung (zum Beispiel Depressionen). Dann nennt der „Experte“ nacheinander vermeintlich typische Symptome (zum Beispiel „Ich fühle mich öfters niedergeschlagen“). Meint der Zuschauer, an sich das jeweilige Symptom beobachtet zu haben, soll er einen Finger beugen. Je mehr Finger er am Ende der „Diagnosestellung“ nach unten gebeugt hat, desto mehr Symptome weist er auf und desto wahrscheinlicher ist er angeblich an der jeweiligen Störung erkrankt. Von dieser „Methode“ gibt es unterschiedliche Varianten.

Informationen und Videos zu psychischen Störungen werden in sozialen Netzwerken stark über Tiktok verbreitet, aber auch über Youtube, Facebook, Tumblr oder Instagram. Sie sind von unterschiedlicher Qualität und Dauer und rangieren von Nonsense oder sogar Fake bis hin zu seriös, informativ, hilfreich und gut gemacht. Für den Laien ist dies nicht immer einfach zu unterscheiden.

Matt Walsh, ein amerikanischer Journalist und Autor aus Nashville, ist der Meinung, dass Tiktok maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es „in“ bei Jugendlichen wurde, sich mit psychischen Störungen zu beschäftigen und sie bei sich selbst zu diagnostizieren. Er hält Social Media und besonders Tiktok für eine „Brutstätte sozialer Ansteckung“, durch die so manches, das bislang eher nebensächlich, belanglos oder unbeachtet war, quasi über Nacht zu einem Trend oder einem regelrechten Hype gemacht wird. Beispielsweise war die dissoziative Identitätsstörung (DIS; auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt) lange Zeit fast nur in Fachkreisen bekannt, bis sie auf einmal extrem populär wurde und Videos dazu weltweit millionenfach angesehen und geteilt wurden.

Neben der DIS gehören auch Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Tourettesyndrom, Trichotillomanie, Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörung sowie Störungen mit hochfunktionaler Ausprägung zu den bei jungen Menschen momentan besonders „angesagten“ psychischen Erkrankungen. Sie werden vermutlich deshalb auffallend häufig selbstdiagnostiziert, weil sie offenbar „spektakulär“ und „exotisch“ genug sind, um sich damit hervortun zu können.

Die Beschäftigung vieler junger Menschen mit psychischen Störungen geht nicht nur mit einer sprunghaften Zunahme an Selbstdiagnosen einher, sondern auch damit, dass Normales pathologisiert wird. Dies zeigt sich zum einen daran, dass Veränderungen und Entwicklungsprozesse, die in der Pubertät vorkommen können, nicht als üblich, sondern als Störung gedeutet werden, zum Beispiel Stimmungsschwankungen als bipolare Störung oder Identitätskrisen als DIS. Zum anderen wird alltäglichen Empfindungen, Zuständen und Unzulänglichkeiten mithilfe von Fachbegriffen ein krankheitswertiger Charakter verliehen. Beispielsweise wurde man „getriggert“, wenn man heftig emotional reagiert hat, oder „traumatisiert“, wenn man etwas Unangenehmes erlebt hat. Man bezeichnet sich als „zwanghaft“, wenn man ordnungsliebend ist, oder als „depressiv“, wenn man bedrückt, verstimmt oder traurig ist, und spricht gleich von einer „Panikattacke“, wenn man einfach nur heftig erschrickt.

Stigmatisierung nimmt ab

Die amerikanische Psychologin PhD Bre-Ann Slay aus Kansas City findet es an sich positiv, dass das Interesse an psychischen Erkrankungen gestiegen ist. Dies lässt ihrer Meinung nach darauf hoffen, dass die Akzeptanz psychischer Störungen und psychisch Kranker steigt, dass ihre Stigmatisierung nachlässt und dass psychische Erkrankungen in vielen Fällen frühzeitig entdeckt und behandelt werden können.

Slay kann es nachvollziehen, dass es für junge Menschen einfach und verlockend ist, sich online in der stetig wachsenden Mental Health Community zu bewegen und sich mit nur wenigen Klicks zu informieren und verstanden zu fühlen. Problematisch daran ist ihrer Meinung nach aber, dass die Jugendlichen oft dubiosen Influencern folgen und sich dann keine professionelle Hilfe mehr suchen, sodass ihre Selbstdiagnosen nicht von Fachleuten überprüft und korrigiert werden. Dann kann es passieren, dass sich die Jugendlichen unnötige Sorgen machen, an einer ernsthaften psychischen Störungen zu leiden, und dass tatsächlich vorhandene psychische und körperliche Erkrankungen (zum Beispiel Hirntumore) übersehen und nicht adäquat behandelt werden.

Slay findet es zudem fragwürdig, dass durch millionenfach gestellte Selbstdiagnosen der Eindruck erweckt wird, dass eigentlich sehr selten vorkommende Erkrankungen wie die DIS enorm verbreitet seien und dass man keine fachliche Ausbildung benötige, sondern sich nur ein paar Tiktok-Videos anzuschauen brauche, um sich mit komplexen Störungsbildern wie bei der DIS „auszukennen“.

Die Psychologin kritisiert aber vor allem, dass manche Jugendliche ihre selbstdiagnostizierten Störungen als Ausrede oder Vorwand missbrauchen und dass sie Mitleid, Rücksichtnahme, Schonung und eine bevorzugte Behandlung einfordern, so als hätten sie ein echtes Handicap. Es stört sie auch, dass psychische Störungen von einigen dazu eingesetzt werden, um in den sozialen Netzwerken aufzufallen, um sich wichtig zu machen und um viele „Likes“ und hohe Zugriffszahlen (unter anderem durch „Clickbaiting“) zu erlangen.

Geradezu anmaßend findet sie es jedoch, dass so viele junge Menschen psychische Störungen auf eine bestimmte Weise „cool“ finden und meinen, dass es sie „besonders“ mache, wenn sie sie „vorweisen“ können. „Sie wissen nicht, wie es ist, wirklich psychisch krank zu sein, sonst würden sie so nicht denken“, meint Slay.

Viele Blogs, Texte und Videos beschränken sich nicht darauf, über psychische Störungen zu informieren oder Selbstdiagnosemethoden vorzuführen, sondern verfolgen auch finanzielle Interessen. So werden beispielsweise Fern- und Fremddiagnosen, Bücher, Fragebögen, Tests, Beratungen, Seminare, Coachings und sogar „Therapien“ gegen Bezahlung angeboten. Die Anbieter besitzen oft weder eine fachliche Ausbildung noch Skrupel. Daher sind manche Coachings oder Therapien nicht nur nutzlos, sondern regelrecht gefährlich. Ein Beispiel ist das sogenannte „Anorexie“- oder „Pro-Ana-Coaching“. Die selbst ernannten „Coaches“ sind in der Regel Männer, die labile magersüchtige Mädchen und junge Frauen über längere Zeiträume mittels Chats etwa bei Instagram dazu anspornen, weiter abzunehmen. Sie schrecken dabei vor massiver psychischer Gewalt in Form von Drohungen, Erpressungen, Bestrafungen, Beleidigungen und Erniedrigungen nicht zurück und treiben die Betroffenen noch stärker in die Sucht. Den „Coaches“ geht es dabei um Macht, Dominanz und Sexualkontakte mit ihren Opfern.

Trotz solcher Gefahren sind manche Jugendliche so stark mit ihren vermeintlichen Störungen beschäftigt, dass sie in einer Art mentalen Tunnel feststecken, in dem nicht einmal ihre Eltern sie erreichen können. Die amerikanische Psychologin PhD Holly Schiff aus Greenwich rät Eltern, sich dadurch nicht verunsichern zu lassen, sondern zu versuchen, ihre Kinder von schädlichen Einflüssen abzubringen, und sie darin zu unterstützen, sich qualifiziert helfen zu lassen.

Psychotherapeuten und Psychiater erleben immer öfter, dass junge Patienten ihnen bei der Erstberatung Diagnosen aus dem Internet zu überwiegend seltenen psychischen Erkrankungen präsentieren. Ihre Reaktionen darauf fallen unterschiedlich aus: Einige Therapeuten finden es hilfreich, wenn Patienten sich bereits mit psychischen Störungen befasst haben und ihre Symptome anschaulich beschreiben können, andere sind hingegen wenig begeistert, weil vorinformierte Patienten von ihren mangelhaften und irreführenden Selbstdiagnosen oft sehr überzeugt sind und unnötigerweise Versorgungskapazitäten in Anspruch nehmen.

Testverfahren zur Überprüfung

Der amerikanische Kinderpsychologe David Rettew an der University of Vermont (USA) empfiehlt Therapeuten, die selbstgestellten Diagnosen mithilfe bewährter Testverfahren zu überprüfen. Er rät: „Therapeuten sollten die Sorgen der Patienten ernst nehmen, zugleich aber den Selbstdiagnosen gegenüber so lange skeptisch bleiben, bis sie entweder bestätigt oder widerlegt werden können.“ Zusätzlich sollte darauf geachtet werden, ob die Nutzung von Social Media mit negativen Auswirkungen wie Selbstwertproblemen oder Abhängigkeit einhergeht.

Laut Slay kann es auch sinnvoll sein, die Unterschiede zwischen selbst und fachkundig gestellten Diagnosen zu erläutern und Peers hinzuzuziehen, um die Hilfesuchenden zu einem kritischen Umgang mit der Thematik zu bewegen. So kann zum Beispiel auf die steigende Zahl an Videos in den sozialen Netzwerken hingewiesen werden, in denen junge Menschen vor Selbstdiagnosen warnen, und es kann dazu geraten werden, eine längere Pause von Social Media einzulegen. 

Quelle: www.aerzteblatt.de / PP 22, Ausgabe Januar 2023

Suchtberatung: Neuer digitaler Zugangsweg

Die digitale Beratungsplattform DigiSucht soll einen neuen niedrigschwelligen Zugang zur anonymen und kostenfreien Suchtberatung bieten. Mitte Oktober 2022 ging bundesweit das umfassende professionelle Beratungsangebot für suchtgefährdete und suchtkranke Menschen sowie deren Angehörige online. Das Angebot soll die Möglichkeit bieten, sich anonym zu registrieren und ein umfassendes Beratungsangebot digital zu nutzen, das sich von jedem handelsüblichen Endgerät (Smartphone, Tablet, Laptop) aus abrufen lässt.

Die Onlineplattform bietet ein trägerübergreifendes hybrides Beratungskonzept, welches zum einen die Möglichkeit der digital gestützten Beratung vor Ort (Blended Counseling) und zum anderen ein Repertoire an digitalen Tools vorweist, das Nutzerinnen und Nutzer umfassende Informationen und Selbsttests anbietet. Die Plattform startet derzeit ihre bundesweite Modellphase mit den Themenfeldern Alkohol, Cannabis und Glücksspiel. Im Verlauf der Entwicklung der Plattform sollen weitere Themen hinzukommen. Ziel der Plattform DigiSucht ist es, die ambulante Suchtberatung durch ein digitales Angebot zu unterstützen und weitere Zugangswege zu schaffen.

Bei DigiSucht handelt es sich um ein vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördertes Projekt, welches der Bevölkerung in 14 Bundesländern zur Verfügung steht. Technisch baut die DigiSucht-Plattform auf eine Open-Source-Software des Deutschen Caritasverbands (DCV) auf, deren Entwicklung ebenfalls durch Mittel des Bundes gefördert wurde. Im Rahmen der Modellphase bis Ende September 2023 wird die DigiSucht-Plattform getestet und parallel evaluiert. Entsprechend der Anforderungen und Bedarfe von Ratsuchenden und Fachkräften soll die Plattform kontinuierlich ausgebaut und weiterentwickelt werden. 

Quelle: www.aerzteblatt.de/ PP 21, Ausgabe November 2022

Psychotherapie: Bedarf 40 Prozent höher als vor der Pandemie

Der Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche liegt einer Umfrage zufolge immer noch 48 Prozent über dem Niveau von vor der Pandemie, wenngleich der Bedarf leicht gesunken ist. Das teilte die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) auf Grundlage einer Erhebung unter ihren Mitgliedern mit. Die befragten 2 270 Vertragspsychotherapeutenpraxen gaben an, über alle Altersgruppen hinweg wöchentlich im Schnitt neue 6,9 Anfragen zu erhalten.

Damit lag die Zahl der Patientenanfragen im Sommer 2022 weiterhin 40 Prozent über dem Wert von vor der Pandemie. „Der Anstieg, den wir schon 2021 beobachten konnten, ist praktisch unverändert“, erklärte der DPtV-Bundesvorsitzende Gebhard Hentschel. Der Leidensdruck durch Pandemie, Krieg und Klimakatastrophen komme bei den Menschen an.

Im Vergleich zwischen Januar 2020 und Juni 2022 gaben die Kassenpraxen einen Anstieg der Patientenanfragen von 42 Prozent an. Bei Privatpraxen stieg der Wert sogar um 62 Prozent. Vor allem in Großstädten ging der Wert im Vergleich zu vor der Pandemie um 48 Prozent nach oben. In kleineren Städten oder auf dem Land waren es 35 Prozent. Bereits ein Drittel der Befragten empfindet die gestiegene Nachfrage als sehr belastend.

Von den durchschnittlich 6,9 Menschen pro Woche, die anfragen, erhält nur rund jeder vierte Patient/Patientin einen Termin für eine Sprechstunde in der jeweiligen Praxis. Nur 3,5 Prozent erhalten ihn innerhalb einer Woche. 51 Prozent warten mehr als einen Monat. Drei Viertel der Patienten müssen weitere Praxen kontaktieren, um einen Termin zu bekommen. Eine Richtlinienpsychotherapie können Patienten in acht Prozent der Praxen binnen einem Monat nach ihrer Anfrage beginnen, in 30 Prozent binnen einem halben Jahr. 

Quelle: www.aerzteblatt.de/ PP 21, Ausgabe November 2022

Körperliche Bestrafung: Auswirkungen auf neuronale Systeme

Jahrzehntelange Forschung belegt, dass körperliche Strafen mit einer Verschlechterung der Gesundheit von Jugendlichen und negativen Auswirkungen auf ihr Verhalten, einschließlich eines erhöhten Risikos für Angstzustände und Depressionen, in Zusammenhang stehen. Eine aktuelle Studie untersuchte nun, welche Auswirkungen körperliche Strafen auf neuronale Systeme haben.

Körperliche Züchtigung kann einfach definiert werden als „vorsätzliches Zufügen von körperlichem Schmerz mit beliebigen Mitteln zum Zwecke der Bestrafung, Korrektur, Disziplinierung, Unterweisung oder aus irgendeinem anderen Grund“. Diese Gewalt, insbesondere wenn sie von einem Elternteil zugefügt wird, ruft komplexe emotionale Reaktionen hervor. Die Forscher:innen unter der Leitung von Dr. Kreshnik Burani, MS, in Zusammenarbeit mit Dr. Greg Hajcak, PhD, beide von der Florida State University, wollten die neuronalen Grundlagen dieser Auswirkungen verstehen.

Die Studie erschien in der Fachzeitschrift „Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging“.

Die Experten und Expertinnen führten eine Längsschnittstudie an 149 Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 14 Jahren aus der Gegend von Tallahassee, Florida, durch. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten eine Videospiel-ähnliche Aufgabe und ein monetäres Ratespiel lösen, während sie sich einer Elektroenzephalographie bzw. einem EEG unterzogen – einer nicht-invasiven Technik zur Messung der Gehirnwellenaktivität. Aus den EEG-Daten ermittelten die Forscher zwei Werte für jeden Teilnehmer – einer, der ihre neuronale Reaktion auf Fehler widerspiegelt, und der andere, der ihre neuronale Reaktion auf Belohnung widerspiegelt.

Zwei Jahre später füllten die Probanden und Probandinnen sowie ihre Eltern eine Reihe von Fragebögen aus, um auf Angst und Depression zu screenen und den Erziehungsstil zu beurteilen. Wie erwartet, entwickelten Kinder, die körperliche Bestrafung erfahren hatten, eher Angstzustände und Depressionen.

„Unsere Arbeit repliziert zunächst den bekannten negativen Effekt, den körperliche Züchtigung auf das Wohlbefinden eines Kindes hat: Wir fanden heraus, dass körperliche Züchtigung mit erhöhter Angst und depressiven Symptomen im Jugendalter verbunden ist. Unsere Studie geht jedoch noch weiter, und zeigt, dass körperliche Bestrafung die Gehirnaktivität und die neurologische Entwicklung beeinflussen kann“, so Kreshnik Burani, MS, Forscher, Florida State University. Demnach zeigen Jugendliche, die körperliche Bestrafung erfuhren, eine größere neuronale Reaktion auf Fehler und eine abgeschwächte Reaktion auf Belohnung.

„Insbesondere“, fügte Burani hinzu, „verbindet unser Artikel körperliche Bestrafung mit einer erhöhten neuralen Empfindlichkeit gegenüber Fehlern und einer verringerten neuralen Empfindlichkeit gegenüber Belohnungen in der Jugend. In früheren und laufenden Arbeiten mit Dr. Hajcak sehen wir, dass eine erhöhte neurale Reaktion auf Fehler mit Angst verbunden ist, während eine verminderte neuronale Reaktion auf Belohnungen mit Depression zusammenhängt. Körperliche Züchtigung könnte daher bestimmte neuronale Entwicklungswege verändern, die das Risiko für Angst und Depression erhöhen, indem sie Kinder hypersensibel gegenüber ihren eigenen Fehlern und weniger reaktiv auf Belohnungen und andere positive Ereignisse in ihrer Umgebung machen.“

Die Arbeit liefert neue Hinweise auf die neuronalen Grundlagen von Depressionen und Angstzuständen und könnte helfen, Interventionen für gefährdete Jugendliche zu entwickeln.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 13.01.2023

Vorschulkinder sollten keine Gewalt im Fernsehen beobachten

Beobachten Vorschulkinder gewalttätige Inhalte im Fernsehen, kann sich dies bis in die Jugendjahre negativ auswirken. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie kanadischer und südafrikanischer Forscher:innen, die in Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics veröffentlicht wurde.

Demnach hatten Kinder, die noch vor ihrer Schulzeit mit Gewalt im Fernsehen konfrontiert waren, im Jugendalter ein höheres Risiko für psychische und Schulprobleme. Betroffene Heranwachsende waren schneller emotional belastet, in der Schule weniger engagiert und motiviert, neigten zu Verhaltensstörungen und zogen sich eher sozial zurück im Vergleich zu Kindern, die in jungen Jahren keine Gewalt anschauen durften. „Vorschulkinder können noch nicht richtig zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Sie neigen dazu, sich mit Figuren im Fernsehen zu identifizieren. Wenn glorifizierte Helden Gewalt als Lösung von Problemen gegen Schurken einsetzen, ist die Botschaft für Kinder, dass dies ‚normal‘ sei. Kinder sind in diesem Alter leicht beeinflussbar. Das Vorschulalter ist anscheinend eine besonders sensible Phase, was den Kontakt mit Bildschirmmedien angeht“, schließt sich Dr. Monika Niehaus, Kinder- und Jugendärztin und Mitglied des Expertengremiums vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), den Kommentaren der Studienautoren und  autorinnen an. Letztere warnen auch davor, dass die Idealisierung von Gewalt die Fähigkeit der Kinder, sich in Gemeinschaftseinrichtungen anzupassen, verringern könnte. Ähnlich wie das Erleben von Gewalt im richtigen Leben könnte das wiederholte Betrachten von Gewalt im Fernsehen immer wieder Angst und Stress auslösen. Kinder gewinnen den Eindruck, dass die Welt gefährlich und furchterregend ist. In ungewissen Situationen könnte dies dazu führen, dass Kinder schnell überreagieren.

„Der BVKJ rät Eltern dazu, Säuglinge und Kleinkinder unter drei Jahren ganz von Bildschirmmedien fernzuhalten und später die ersten Bildschirmerfahrungen ihrer Kinder zu begleiten“, erklärt Dr. Niehaus. Studien weisen darauf hin, dass je jünger die Kinder beim Kontakt mit Bildschirmmedien sind, je länger die tägliche Bildschirmzeit und die Bildschirmexposition insgesamt seit der Geburt ist, desto eher zeigen Kinder im Vorschulalter Autismus-ähnliche Verhaltensweisen bzw. „Pseudo-Autismus“. „Kinder, die sich schon früh mit Bildschirmen statt mit Bezugspersonen beschäftigen, fehlt es an Anregung, u.a. auch sprachlich und sozial. Bezugspersonen reagieren auf Kinder, sprechen mit ihnen. Ohne dieses Wechselspiel droht eine verzögerte Sprachentwicklung und es besteht die Gefahr, dass Kinder kaum soziale Fähigkeiten entwickeln – ähnlich wie autistische Kinder“, verdeutlicht Dr. Niehaus. Autistische Kinder haben u.a. Schwierigkeiten, Gefühle anderer zu erkennen, darauf zu reagieren und Blickkontakt zu halten, sie können sich schwer länger auf etwas konzentrieren.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 11.01.2023

10-Punkte-Paper veröffentlicht: So werden Kinder als Besuchende auf Intensivstationen besser einbezogen

Dürfen Kinder und Jugendliche Papa oder Mama, Oma oder Opa oder auch Freunde auf der Intensivstation oder in der Notaufnahme besuchen? Ist das nicht zu viel für ein Kind?

All die Kabel und Schläuche? Das Bangen um Leben und Tod? Seit vielen Jahren wird hierüber kontrovers diskutiert. Typische Kontra-Argumente sind etwa, dass Kinder durch die belastenden Eindrücke traumatisiert werden könnten oder wechselseitige Infektionsgefahr besteht. Es gibt aber auch viele Hinweise darauf, dass ein Besuch unter bestimmten Bedingungen gesundheitsförderlich sein kann – für alle Beteiligten!

Ein 33-köpfiges interdisziplinäres Experten-Team aus Österreich, Deutschland und der Schweiz hat innerhalb der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nun einen Leitfaden als Hilfestellung rund um dieses Thema veröffentlicht – die in 10 Punkte gegliederte, konsentierten Empfehlungen „Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen und in Notaufnahmen“.
„Das ist das erste Mal im europäischen Raum, dass Autoren aus der gesamten DACH-Region unter dem Mantel einer Fachgesellschaft eine solche Empfehlung verabschiedet haben“, freut sich Maria Brauchle. Die Diplom-Gesundheits- und Krankenpflegerin für Intensivpflege am Landeskrankenhaus Feldkirch in Österreich hat das Projekt angestoßen und ist eine von den drei federführenden Autoren. Adressieren soll das 57-seitige Meilenstein-Papier Mitarbeiter aller Professionen sowie Eltern und Sorgeberechtigte. Zudem soll es eine unverzichtbare Hilfestellung sowie ein roter Faden werden, um zukünftig einheitliche Besuchsregeln für Kinder entwickeln und implementieren zu können.

Die aufgeführten 10 Empfehlungen thematisieren alle dafür relevanten Punkte: Von der genauen Planung eines Kinderbesuches im interprofessionellen Team und die Stärkung elterlicher Kompetenzen bis hin zur Aufbereitung von kindgerechten Informationen und psychosozialer Unterstützung sowie Einbindung von Qualitäts- und Risikomanagement und einer Dokumentation von Kinderbesuchen.

Empfehlung 1: Den Besuch von Kindern im interprofessionellen Team planen
Empfehlung 2: Elterliche Kompetenzen stärken
Empfehlung 3: Kindgerechte Information sicherstellen
Empfehlung 4: Den Besuch von Kindern vorbereiten, begleiten und nachbereiten
Empfehlung 5: Psychosoziale Unterstützung anbieten
Empfehlung 6: In palliativen Situationen besonders begleiten
Empfehlung 7: In Notfallsituationen eine kindgerechte Begleitung ermöglichen
Empfehlung 8: Führung – den richtigen Rahmen für Kinderbesuche schaffen
Empfehlung 9: Qualitäts- und Risikomanagement einbinden
Empfehlung 10: Den Kinderbesuch und Angehörigengespräche dokumentieren

Drei Jahre Arbeit stecken in dem Meilenstein-Papier

Die Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe „ICU Kids“ unter der Leitung von Maria Brauchle, Dr. Teresa Deffner und Dr. Peter Nydahl in Kooperation mit den DIVI-Sektionen psychologische Versorgungsstrukturen, Pflegeforschung und Pflegequalität, Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin, Ethik, Bewusstseinsstörungen und Koma, Sepsis und Infektiologie entwickelt. Nach intensiver Vorarbeit der drei federführenden Autoren hat dann das interdisziplinäre Gremium das vergangene halbe Jahr ungezählte Arbeitsstunden investiert, um fachlich jeden Winkel zu beleuchten. „Insgesamt haben wir zusammen rund drei Jahre an den Empfehlungen geschrieben“, rechnet Maria Brauchle nach.

So haben sich neben der DIVI die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGiNA), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), die deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie sowie die AETAS Kinderstiftung eingebracht. „Die Entstehung der Empfehlungen war eine wunderbare Teamarbeit, geprägt durch unglaubliche Disziplin und Wertschätzung einem jeden gegenüber“, berichtet Brauchle. Persönliche, ja teilweise sehr persönliche Erfahrungen und Erlebnisse wie auch natürlich alle professionellen Blickwinkel konnten daher umfassend diskutiert werden und letztendlich in die Empfehlungen einfließen.
Und gleich zwei Versionen hat das Team veröffentlicht: Eine Gesamtversion und eine Kurzfassung – damit die wichtigsten Empfehlungen auch auf einen Blick zu erfassen sind.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 09.01.2023

Typ-1-Diabetes: Neue Erkenntnisse zur Entwicklung der Autoimmunkrankheit bei Kindern

Studie gibt erstmals Aufschluss über die Dynamik von Blutzuckerwerten und Autoimmunität im frühen Kindesalter: Wann und warum manifestiert sich ein Typ-1-Diabetes bei Kindern? Erstmals haben Forschende die Blutzuckerwerte und parallel dazu die Inselautoantikörper bei Kindern mit erhöhtem genetischem Risiko für Typ-1-Diabetes in den ersten Lebensjahren in einer Langzeitstudie untersucht.

Ergebnisse der Studie wurden nun im Journal of Clinical Investigation veröffentlicht. Die Studie liefert ein besseres Verständnis der Dynamik der Blutzuckerregulation im frühen Kindesalter und neue Erkenntnisse über die Entstehung der Autoimmunität bei Typ-1-Diabetes.

Im Rahmen der Globalen Plattform zur Prävention des Autoimmunen Diabetes (GPPAD) wird die klinische Primärpräventionsstudie POInt (Primary Oral Insulin Trial) multizentrisch in fünf Ländern und an sieben Standorten durchgeführt. POInt hat zum Ziel, die Entstehung der Inselautoantikörper zu verhindern und so der Entstehung eines Typ-1-Diabetes vorzubeugen. Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunkrankheit, bei der die insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse durch eine fehlerhafte Reaktion des Immunsystems zerstört werden. Bisher ging man davon aus, dass dieser Prozess zunächst unerkannt im Hintergrund verläuft und erhöhte Blutzuckerwerte ein Ergebnis der Autoimmunität gegen die Betazellen sind. Jedoch wurde noch nie untersucht, wann die Betazellen zum ersten Mal betroffen sind. Die POInt Studie untersuchte darum über einen längeren Zeitraum mehr als 1.000 Kinder ab ihrem vierten Lebensmonat mit einem um 10% erhöhten Risiko für Typ-1-Diabetes. Das ermöglichte den Forschenden, den Zusammenhang zwischen Blutzuckerwerten und erster Entwicklung von Inselautoantikörpern zu analysieren.

„Unsere Forschungsergebnisse verändern das Verständnis der Entwicklung des Typ-1-Diabetes. Wir zeigen, dass Stoffwechselveränderungen früher im Krankheitsprozess auftreten, als bisher angenommen“, erklärt Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Helmholtz Munich Instituts für Diabetesforschung (IDF). Gemeinsam mit einem internationalen Team untersuchte sie in der POInT Studie die prä- und postprandialen Blutzuckerwerte – also vor und nach dem Essen – sowie die Inselautoantikörper der Kinder.

Ergebnisse liefern neue Impulse für die Forschung

Die Auswertung der Experten und Expertinnen zeigte, dass die Blutzuckerkonzentrationen kurz nach der Geburt entgegen bisheriger Annahmen keinen stabilen Zustand erreichen. Stattdessen fallen sie im ersten Lebensjahr ab und steigen im Alter von ungefähr 1,5 Jahren wieder an. „Die dynamischen Veränderungen der Blutzuckerwerte während der ersten Lebensjahre sind verblüffend. Vermutlich werden hier frühe Veränderungen der Bauchspeicheldrüseninseln widergespiegelt. Das ist ein deutliches Signal dafür, dass wir die Beziehung zwischen Zuckerstoffwechsel und Bauchspeicheldrüse während der ersten Lebensphase intensiver untersuchen müssen“, erklärt Katharina Warncke, Oberärztin der Kinderendokrinologie/Diabetologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin und Wissenschaftlerin am IDF. Eine weitere spannende Beobachtung: Im Vergleich zu Kindern ohne Autoimmunreaktion wiesen Kinder, die eine Autoimmunität entwickelt haben, bereits zwei Monate vor der Bildung der Autoantikörper erhöhte Blutzuckerwerte auf. Dieser Unterschied blieb im weiteren Verlauf bestehen. Zudem waren auch die Blutzuckerwerte vor dem Essen nach dem ersten Auftreten von Autoantikörpern erhöht.

Rätsel um das Ereignis, das die Autoimmunreaktion begünstigt

Die Forschenden konnten feststellen, dass der Blutzuckerstoffwechsel sehr früh im Leben dynamisch verläuft und den Häufigkeitsgipfel der Inselautoantikörperentstehung spiegelt – dies deutet auf eine Phase von Aktivität und Anfälligkeit der Inselzellen hin. „Die starke Veränderung der postprandialen Blutzuckerwerte kurz vor dem ersten Nachweis von Autoantikörpern lässt ein Ereignis vermuten, das die Funktion der Betazellen beeinträchtigt. Dieses Ereignis geht der Autoimmunreaktion voraus und trägt zu ihrer Entwicklung bei. Da sich die Betazellfunktion nach der ersten Antikörperbildung weiter verschlechtert, scheint es sich um eine dauerhafte Schädigung der Inselzellen zu handeln, die die Blutzuckerregulation destabilisiert “, erklärt Warncke.

“Das beobachtete Verhältnis zwischen Blutzuckerwerten und erstmaliger Autoimmunreaktion ist faszinierend. Jetzt wissen wir, dass der Krankheitsmechanismus vermutlich direkt an den Inseln des Pankreas ausgelöst wird. Damit können wir die Ursache der chronischen Erkrankung gezielter erforschen,” sagt Ezio Bonifacio, Professor am Zentrum für Regenerative Therapien der Technischen Universität Dresden.
Die Wissenschaftler:innen fanden also heraus, dass sich Stoffwechselveränderungen viel früher im Krankheitsverlauf zeigen, als bislang angenommen: Sie können der Autoimmunität vorausgehen oder parallel dazu stattfinden. Die Autoren und Autorinnen vermuten, dass der plötzliche Anstieg der Blutzuckerwerte nach dem Essen und kurz vor der Entwicklung von Antikörpern mit einer veränderten Funktion der Inselzellen zusammenhängt.

Das Ziel: weniger Neuerkrankungen

„Veränderungen der Blutglukose könnten somit künftig als Indikator für eine Fehlfunktion der Inselzellen und den möglichen Beginn von Autoimmunität gegen die Beta-Zellen dienen“, fasst Ziegler zusammen. Dafür bedarf es aber einer weiteren, intensiven Erforschung des Glukosestoffwechsels und weiterer Biomarker in der frühen Kindheit. Ziel aller Bemühungen der Wissenschaftler:innen ist es, die Zahl der Neuerkrankungen mit Typ-1-Diabetes zu verringern. Aktuell sind vier von 1.000 Kindern in den westlichen Industrienationen von der chronischen Krankheit betroffen.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 30.12.2022