Depressionen bei Kindern häufiger als Eltern glauben

Stiftung Kindergesundheit informiert über Warnsymptome und Risiken depressiver Störungen. Mindestens jeder zehnte Jugendliche erlebt bis zum Erreichen der Volljährigkeit wenigstens eine depressive Episode.

Die Jahre der Kindheit und Jugend werden von Erwachsenen gern als „fröhlich und unbeschwert“ verklärt. Doch nicht jedes Kind erlebt sie so: Die oft als „sorgenfrei“ gepriesene Kindheit erweist sich in Wirklichkeit häufig als von psychischen und emotionalen Problemen belastet. Selbst schwere Depressionen kommen schon bei Kindern und Jugendlichen vor: Mindestens jeder zehnte Jugendliche erlebt bis zum Erreichen der Volljährigkeit wenigstens eine depressive Episode, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer Stellungnahme.
Kinder- und Jugendärzte, Kinder- und Jugendärztinnen, Kinderpsychiater*innen und Kinderpsychotherapeuten und Kinderpsychotherapeutinnen haben in den letzten Jahren eine Zunahme von depressiver Symptomatik bei jungen Menschen registriert. Allerdings ist es im Kindes- und Jugendalter nicht immer leicht, eine Depression von den üblichen, „normalen“ Verhaltensweisen abzugrenzen: Erst ab dem Grundschulalter können Kinder ihre gedrückte Stimmungslage und emotionale Niedergeschlagenheit selbst einigermaßen in Worte fassen. Sie sind traurig oder unglücklich, weil sie sich ungeliebt, nicht geborgen oder vernachlässigt fühlen. Wenn sie sich äußern, beklagen sie sich zum Beispiel mit Sätzen wie: „Niemand hat mich lieb“, oder: „Keiner will mit mir spielen,“ oder sogar: „Ich wünschte, ich wäre tot“.

Ein oft unterschätztes Problem

„Depressive Symptome bei Kindern und Jugendlichen sind häufiger als Eltern annehmen. Gerade in den letzten Jahren ist die Zahl neu diagnostizierter depressiver Störungen deutlich angestiegen „, sagt die Münchner Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie Priv.-Doz. Dr. med. Katharina Bühren, ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Stiftung Kindergesundheit. „Bereits vor der Coronapandemie war fast jedes fünfte Kind und Jugendliche in Deutschland von psychischen Auffälligkeiten betroffen. Im Jahr 2019 benötigten rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, 104% mehr als im Jahr 2009. Im Verlauf der Pandemiejahre hat sich dann ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit weiter verschlechtert: Depressive und psychosomatische Symptome, Ängste und auch Essstörungen kommen zurzeit insbesondere bei Mädchen wesentlich häufiger vor als vor Corona“.

Wie die Pandemie die Kinder belastet

Besonders die Corona-bedingten Schulschließungen haben die Kinder und Jugendlichen stark belastet: Laut einer neuen Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) wiesen junge Menschen während der Schulschließungen zu 75% häufiger allgemeine Depressionssymptome auf als vor Ausbruch der Pandemie.
Die Kinder waren während dieser Zeit nicht nur von der zeitweisen Schließung von Spielplätzen, Kitas und Schulen betroffen: Gleichzeitig wurden ihre sozialen Kontakte zu Freunden, Mitschülern und selbst zu den Großeltern zwangsläufig eingeschränkt.

„Besonders die Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernen Familien, mit Migrationshintergrund und beengten räumlichen Verhältnissen zeigten mehr depressive Symptome als Gleichaltrige“, berichtet Priv.-Doz. Dr. Katharina Bühren.

Wie sich die Symptome mit der Zeit verändern

Depressive Kleinkinder (1 bis 3 Jahre) zeigen sehr unspezifische Symptome. Sie können still und zurückhaltend sein oder durch Spielunlust auffallen. Nicht selten sind sie aber auch unruhig, weinen und schreien oft, essen und schlafen schlecht oder wiederholen bestimmte Bewegungen immer wieder.

Bei Kindern im Vorschulalter (3 bis 6 Jahre) äußert sich eine Depression oft mit einem traurigen Gesichtsausdruck und mit verminderter Gestik und Mimik. Das Kind ist häufig bedrückt und kann sich über nichts mehr so richtig freuen, bewegt sich ungern und zeigt psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Nicht selten sind diese Kinder leicht zu irritieren, schlafen schlecht ein und haben oft Albträume.

Im Schulkindalter (7 bis 13 Jahre) zeigt sich eine Depression häufig durch leichte Reizbarkeit und gedrückte Stimmung, Lustlosigkeit, Unkonzentriertheit und Leistungsabfall in der Schule. Die Betroffenen beschreiben Selbstzweifel und auch Selbstmordgedanken.

Depressive Jugendliche (14 bis 18 Jahre) sind niedergestimmt, ziehen sich zurück und neigen zu Grübeleien. Es können auch Stimmungsschwankungen und Appetitstörungen sowie psychosomatische Beschwerden dazu kommen. Schlafstörungen, eine Verschlechterung der Schulleistungen, aber auch ein Gefühl der Leere und Lustlosigkeit werden häufig berichtet. Umso ausgeprägter die depressive Symptomatik ist, desto eher kommen auch Suizidgedanken dazu. Mit zunehmendem Alter können Todeswünsche und -vorstellungen die Gedanken gefährlich verdüstern: Selbsttötungen stellen mit 12% der Todesursachen bei Jugendlichen nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache dar.

Zu oft übersehen und zu spät erkannt

Depressionen werden bei Kindern und Jugendlichen nicht selten übersehen und nicht behandelt, selbst wenn deutliche Anzeichen vorhanden sind, so Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Katharina Bühren: „Auch ernste Symptome einer Depression wie Freudlosigkeit oder Niedergeschlagenheit werden bei Kindern im Teenageralter häufig als eine Phase fehlinterpretiert, die zur Pubertät gehört“.

Weil sich aber eine Depression ohne Behandlung verstärken und zu weiteren Störungen führen kann, sollten depressive Symptome immer ernst genommen werden, betont die Expertin der Stiftung Kindergesundheit mit großem Nachdruck: „Wer schon als junger Mensch psychisch erkrankt, hat auch als Erwachsener ein höheres Risiko für eine psychiatrische Erkrankung. Über die Hälfte der psychischen Störungen entsteht vor dem neunzehnten Lebensjahr“. Die Häufigkeit von Depressionen steigt von unter 2% bei Kindergartenkindern auf etwa 9% während der Pubertät bis auf 20% bis zum 18. Lebensjahr an.

Psychische Gesundheit von Kindern stärken!

Zur Sta?rkung der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen empfiehlt die Stiftung Kindergesundheit folgende Maßnahmen:

  • Verbesserung der ambulanten und stationären kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung durch Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen
  • dauerhafte Förderung psychotherapeutischer und psychiatrischer Angebote, die niedrigschwellig an Schulen angebunden sind, sowie Angebote der Jugendhilfe in besonders belasteten Wohnquartieren, und
  • Schulfach „Gesundheit“ einführen, um die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und so auch das Risiko fu?r psychische Erkrankungen zu verringern.

Düstere Gedanken? Reden kann Schlimmeres verhüten

Häufig ist es allerdings nicht leicht, an ein Kind oder einen Jugendlichen mit Depressionen heranzukommen, räumt die Stiftung Kindergesundheit ein. Manchmal möchten sich Betroffene am liebsten in einem Loch verkriechen und vermeiden es, über ihre Gefühle zu sprechen. Dabei wäre es wichtig, dass sie ihre Empfindungen in Worte fassen und mit anderen teilen können.

Deshalb sollten Eltern die Gefühle ihres Kindes ernst nehmen und auch ansprechen. Offene Gespräche schaffen Vertrauen und helfen psychische Probleme frühzeitig wahrzunehmen.

Zur Behandlung einer depressiven Störung bei Kindern und Jugendlichen stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung: Ob das Kind mit einer Psychotherapie oder zusätzlich mit Medikamenten behandelt werden soll, muss von Fall zu Fall individuell entschieden werden.

Wenn Kinder und Jugendliche, ihre Eltern selbst oder andere Angehörige depressive Gedanken haben oder sogar überlegen, sich das Leben zu nehmen, sollten sie unbedingt versuchen, mit jemandem darüber zu sprechen, ganz gleich ob aus der Familie oder aus dem Freundeskreis, betont Priv.-Doz. Dr. Katharina Bühren: „Außerdem sollten sie sich an Menschen werden, die sie professionell unterstützen können. Erste Ansprechpartner können Beratungsstellen, Hausärzte und Hausärztinnen, Kinder- und Jugendärztinnen oder Kinder- und Jugendärzte sein, die dann die Eltern mit ihrem Kind in eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Praxis überweisen können.“

Hier finden Familien Rat und Hilfe

Geschulte Gesprächspartner*innen, die in psychischen Lebenskrisen eine Hilfe anbieten können, erreichen Betroffene telefonisch:

  • bei der Telefonseelsorge (Evang.: 0800-111 0 111, Kath.: 0800-111 0 222),
  • im Notfall bei der Polizei (110) oder dem Rettungsdienst (112),
  • bei der „Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche“ unter Tel. 116 111, oder
  • bei der „Nummer gegen Kummer für Eltern“ unter Tel. 0800-111 0 550.

Eine weitere umfangreiche Liste von möglichen Hilfen bietet die Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 29.03.2023

Langer Aufenthalt in Kindertagesstätte verschlechtern Verhalten kleiner Kinder nicht

Kleine Kinder, die längere Zeit in Kindertagesstätten verbringen, entwickeln einer aktuellen Studie zufolge kein größeres Risiko für Verhaltensprobleme.

In einer amerikanischen Studie, die in der Zeitschrift „Child Development“ veröffentlicht wurde, werteten Forscher*innen die Daten von mehr als 10.000 Vorschulkindern aus, die an sieben Studien aus fünf Ländern in Nordamerika und Europa teilgenommen hatten. Es stellte sich heraus, dass Kinder, die längere Zeiträume in Kindertageseinrichtungen verbrachten, nicht mit Verhaltensproblemen bei Kleinkindern und Vorschulkindern verbunden waren.

Basierend auf Berichten von Lehrern und Eltern fanden die internationalen Wissenschaftler*innen keine Zunahme von „externalisierenden“ Verhaltensweisen wie Mobbing, Streitereien, Schlagen, Beißen, Treten, Haareausreißen oder Ruhelosigkeit.
„Dies ist beruhigend angesichts der Tatsache, dass die Trends bei der Nutzung von Kinderbetreuung und der Erwerbsbeteiligung der Eltern wahrscheinlich stabil bleiben werden“, schrieb die Gruppe unter der Leitung von Catalina Rey-Guerra, einer Doktorandin am Boston College in Massachusetts.

Die Studie fand auch keine Hinweise darauf, dass der sozioökonomische Status wie das Haushaltseinkommen und das Bildungsniveau der Mutter Einfluss darauf hatte, wie lange ein Kind in der Betreuungseinrichtung verbrachte.

Die Einrichtungen hatten demnach keinen negativen Effekt auf das Verhalten, sondern boten sogar noch dauerhafte Lernvorteile durch ständige Anreize und Förderung.

„Angesichts der bestehenden Belege für langfristige Leistungsvorteile der frühkindlichen Betreuung und Bildung für Kinder sprechen unsere Ergebnisse meiner Meinung nach sowohl für die direkten positiven Auswirkungen, die der Besuch einer Kinderbetreuung auf Kinder haben könnte, als auch für die indirekten positiven Auswirkungen durch die Möglichkeit ihrer Eltern, ohne die Angst, dass ihr Kind dadurch Schaden nehmen könnte, am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können“, sagte Rey-Guerra.

Richtlinien, die den Zugang zu hochwertiger Kinderbetreuung sicherstellen, sollten eine internationale Priorität sein, betonte sie.
Seit fast 40 Jahren diskutieren Forscher darüber, ob die Zeit in der Kindertagesstätte direkt dazu. Die meisten Hypothesen, die einen schlechten Einfluss durch Gemeinschaftseinrichtungen für kleine Kinder vorhersagten, haben sich nicht bewahrheitet, so Rey-Guerra.
„Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass das Risiko [für ungünstige Entwicklungen] steigt, wenn Kinder während ihrer gesamten Kindheit ununterbrochen Zeit in Räumen mit übermäßig großen Gruppen von kleinen Kindern verbringen. zum Beispiel, wenn Gemeinschaftseinrichtungen das empfohlene Erzieher-Kind-Verhältnis überschreiten.“ (Die Autoren nennen z.B. ein Verhältnis Erzieher zu Kind von 1:4 für Säuglinge, 1:7 für Kleinkinder und 1:8 für Vorschulkinder)

Qualität sei der Schlüssel. „Dann ist es wahrscheinlicher, dass Sie schlecht angepasste und gestresste Verhaltensweisen wie Aggressionen und Stimmungsschwankungen sehen“, kommentierte Prof. Dr. Carol Weitzman, MD, von der Harvard Medical School, die nicht an der Studie beteiligt war.

Sie stellte fest, dass Kinder im Vorschulalter von ihrer Entwicklung her bereit sind, zwischenmenschliche Situationen zu bewältigen, wie das Teilen, gemeinsam mit einem Spielzeug spielen und zu warten, bis die eigenen Bedürfnisse erfüllt werden.

„Eine hochwertige Kinderbetreuung bietet Kindern ein Gerüst, damit sie lernen können, Gefühle zu erkennen und zu beschreiben und immer komplexere soziale Situationen zu bewältigen.“ Sie kann Vorschulkindern auch dabei helfen, Freundschaften aufzubauen und die Erfahrungen anderer zu verstehen.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 13.03.2023

Gelenkschmerzen: Bei Kindern mit Zöliakie an erhöhtes Risiko für rheumatische Erkrankungen denken

Kinder mit Zöliakie entwickeln fast dreimal so häufig juvenile idiopathische Arthritis (JIA), eine rheumatische Erkrankung, im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen. Darauf macht eine schwedische Studie aufmerksam. Deshalb sollten Eltern besonders auf Gelenkprobleme bei betroffenen Kindern achten.

„Eine frühe Diagnose hilft Schmerzen zu verhindern und Gelenkfunktionen zu erhalten. Bei rheumatischen Erkrankungen entzündet sich die Gelenkinnenhaut, schwillt an und produziert vermehrt Flüssigkeit. Unbehandelt schädigt dies mit der Zeit Knorpel, Knochen, Sehnen und Bänder“, erklärt Prof. Dr. Hans-Jürgen Nentwich, Kinder- und Jugendarzt sowie Mitglied des Expertengremiums beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Zöliakie ist eine der häufigsten nichtinfektiösen Darmerkrankungen. Gluten, das Klebereiweiß aus Getreide, löst bei Betroffenen Entzündungen im Dünndarm aus, die längerfristig auch zu Gewebeschäden im Darm führen. Schon kleinste Mengen an Dinkel, Weizen, Roggen, Hafer oder Gerste in der Nahrung können ausreichen, um bei Zöliakie-Patienten Beschwerden im Magen-Darm-Trakt zu verursachen. Von Zöliakie-Patienten und  Patientinnen ist bereits bekannt, dass sie zu Autoimmunerkrankungen neigen, wie Diabetes Typ 1, Schilddrüsen-Autoimmunerkrankungen (Hashimoto-Thyreoiditis, Morbus Basedow). Umgekehrt erhöht auch Diabetes Typ 1 und eine Schilddrüsen-Autoimmunerkrankung das Risiko für Zöliakie.

Die schwedischen Forscher und Forscherinnen verglichen 24.014 Kinder und Erwachsene mit Zöliakie mit 117.397 Gleichaltrigen. Dies bestätigte, dass auch rheumatische Erkrankungen, die eine fehlgeleitete Immunreaktion gegen die Gelenkinnenhaut und z.T. auch gegen andere Organe darstellen, häufiger bei Zöliakie-Erkrankten auftreten. Erwachsene mit Zöliakie entwickeln demnach doppelt so häufig eine rheumatische Erkrankung im Vergleich zu Erwachsenen ohne Zöliakie. In Europa erhalten etwa 0,8% der Bevölkerung die Diagnose Zöliakie. In Schweden ist der Anteil von Zöliakie-Betroffenen in der Bevölkerung in Relation zu anderen Ländern relativ hoch. Schwedische Kinder haben ein 1,8-fach höheres Risiko für Zöliakie als Kinder in Deutschland. „Diese regionalen Unterschiede der Häufigkeit von Zöliakie zeigen, dass neben genetischen Faktoren auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Die genauen Hintergründe sind noch nicht vollständig erforscht“, ergänzt Prof. Dr. Nentwich. Nachgewiesen ist, dass das Risiko, an Zöliakie zu erkranken, bei betroffenen Verwandten ersten und zweiten Grades höher ist.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 09.03.2023

Jugendmedienschutzindex 2022

Eltern besorgter – Kinder und Jugendliche stärker in Kontakt mit Online-Risiken

Mit dem »Jugendmedienschutzindex 2022« legt die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM) aktuelle Studienergebnisse zum Umgang von Kindern, Jugendlichen und Eltern mit Online-Risiken vor. 77 Prozent der Eltern in Deutschland sind besorgt, dass ihr Kind bei der Online-Nutzung belastende oder schlimme Erfahrungen macht – bei den Heranwachsenden selbst sind es nur 44 Prozent. Während sich Eltern besonders um den Kontakt zu Fremden und mit verstörenden Inhalten sorgen, beunruhigt Kinder und Jugendliche vor allem das Verhalten anderer Heranwachsender. Obwohl Eltern besorgter sind als noch vor fünf Jahren, geht ihr aktives medienerzieherisches Handeln zurück. Es scheint ihnen schwerzufallen, die richtige Balance zwischen Schutz und Ermöglichung zu finden. Die repräsentative Befragung zeigt, wie der Schutz von Heranwachsenden im Alter von neun bis 16 Jahren vor negativen Online-Erfahrungen in den Sorgen, den Einstellungen, den Fähigkeiten und dem Handeln von Eltern sowie von Kindern und Jugendlichen selbst verankert ist. Dabei werden Stärken und Schwächen der derzeitigen gesetzlichen Regelungen für den Jugendmedienschutz sowie der verfügbaren medienpädagogischen Unterstützungsangebote deutlich. Erstmals lagen mit dem Jugendmedienschutzindex 2017 dazu empirische Ergebnisse vor.

Weitere Informationen online unter: www.jugendmedienschutzindex.de

Quelle: Pressemeldung der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM), Berlin, 01. Februar 2023

»Justy«-App stärkt die Rechte von Jugendlichen

FH Dortmund und Partner entwickeln interaktive Plattform für den Heimalltag

Wofür darf ich mein Taschengeld ausgeben? Dürfen Mitarbeitende einfach mein Zimmer betreten? Muss ich wirklich um 20 Uhr wieder in der Wohngruppe sein? Der Alltag von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung ist geprägt von Machtgefällen. Ein digitales Tool soll dazu beitragen, dass Rechte von Jugendlichen gesichert und ihre Beteiligung gestärkt werden. Das Projekt wird von der Aktion Mensch Stiftung gefördert. 
Die Kinderrechte-App »Justy« will für Jugendliche, die in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe wohnen, digitaler Wegweiser, Ratgeber und Beschwerdestelle sein. Prof. Dr. Nicole Knuth vom Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund begleitet mit ihrem Team das Projekt der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. »Wir haben die Idee schon früh mit der Ombudsstelle Jugendhilfe NRW entwickelt«, berichtet Prof. Knuth. Das Ziel sei eine frei zugängliche App für alle Betroffenen in den Einrichtungen. Mit ihrem Team an der FH Dortmund startet Nicole Knuth nun mit qualitativen Interviews in sechs Einrichtungen der Diakonie. Die Kernfrage: Wie muss eine App konzipiert sein, damit sie dabei helfen kann, dass Jugendliche in den Einrichtungen ihre Rechte kennen und durchsetzen können? »Dabei binden wir auch die Fachkräfte in den Einrichtungen ein«, betont die Sozialwissenschaftlerin. Nur wenn die App auch von Erzieher:innen akzeptiert werde, könne das Projekt gelingen. »Die pädagogische Arbeit zu berücksichtigen, ist wichtig. Zugleich liegt der Fokus aber auf den Rechten der Kinder und Jugendlichen«, sagt Prof. Knuth. Nach den ersten Workshops zur App wird bereits deutlich, dass es den Betroffenen nicht nur um Wissensvermittlung zu ihren Rechten geht. Sie wünschen sich auch Chatfunktionen zum Austausch mit anderen Jugendlichen oder externen Hilfsstellen, oder interaktive Elemente, um etwa das eigene Zimmer mit Augmented Reality virtuell einzurichten.

Quelle: Meldung der Fachhochschule Dortmund, Dortmund, 24. Januar 2023

Vergessenen Kindern eine Stimme geben

Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien vom 12.-18. Februar 2023

In einer bundesweiten verbandsübergreifenden Gemeinschaftsaktion von professionellen Hilfeprojekten, Selbsthilfe und Einzelpersonen wird positive Aufmerksamkeit für COAs durch öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen und Aktionen geschaffen. Ferner wird das Thema Sucht in der Familie durch die öffentliche Thematisierung enttabuisiert. Gezielte Angebote für betroffene Familien schaffen niedrigschwellige Einstiege in das Hilfesystem. Multipliziert wird die Wirkung von Veranstaltungen und Aktionen durch regionale und überregionale Medienberichterstattung. Auch dies bewirkt, dass das Thema Sucht in der Familie und die Auswirkungen auf Kinder öffentlich wird und dadurch enttabuisiert werden kann. Eine weitere Zielsetzung ist die Fortbildung von Menschen, die beruflich mit Kindern arbeiten. Die Veranstaltungen der Aktionswoche bieten mit entsprechenden Fachtagen ein qualifiziertes Angebot, das es den Fachkräften ermöglicht, betroffene Kinder im Sinne der Resilienzförderung zu unterstützen.

Alle weiteren Informationen zur Aktionswoche finden sich unter www.coa-aktionswoche.de

Quelle: Meldung NACOA Aktivitäten zur COA-Aktionswoche 2023, 08. Februar 2023

Frühzeitiges Erlernen der Selbstbeherrschung wirkt sich positiv auf den späteren Bildungserfolg aus

Eine Studie der Universitäten Zürich und Mainz hat gezeigt, dass sich das Erlernen der Selbstbeherrschung bzw. der Selbstregulation in der Grundschule langfristig positiv auf den späteren Bildungserfolg auswirkt. Dies umfasst die Fähigkeit eines Kindes, seine Aufmerksamkeit und seine Impulse beherrschen und steuern zu können.

Selbstregulation, also die Fähigkeit, Aufmerksamkeit, Gefühle und Impulsen zu kontrollieren, sowie die Fähigkeit, individuelle Ziele beharrlich zu verfolgen, ist etwas, das kleinen Kindern in der Regel noch schwerfällt. Doch die pandemiebedingten Schulschließungen und die verstärkte Nutzung digitaler Medien durch Kinder haben nun gezeigt, wie wichtig diese Fähigkeiten gerade für Kinder sind.

Studien belegen, dass Menschen, die als Kinder Selbstregulierung beherrschen, im Durchschnitt ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit und eine größere Lebenszufriedenheit aufweisen. Sie kommen auch zu dem Schluss, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation bereits im Kindesalter gezielt trainiert werden kann.

Selbst bei kurzen Trainingseinheiten verbessert sich die Selbstregulation
Ein internationales Team des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich (Schweiz) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Deutschland) wollten klären, ob Selbstregulation Kindern ohne viel Zeitaufwand beigebracht werden könne. Anhand einer randomisierten kontrollierten Studie in Grundschulen mit mehr als 500 Erstklässlern konnte das Forschungsteam nachweisen, dass bereits eine kurze Trainingseinheit zu einer deutlichen und nachhaltigen Verbesserung der Selbstregulation führte. Das Training wirkte sich nicht nur auf die Selbstregulationsfähigkeit aus; die Kinder hatten ein Jahr nach der Ausbildung eine deutlich verbesserte Lesefähigkeit, vermieden viel besser Flüchtigkeitsfehler und wurden drei Jahre nach der Ausbildung auch deutlich häufiger auf ein Gymnasium bzw. eine höhere Schule aufgenommen.

Die Studie der Expert:innen aus der Schweiz und Deutschland hat gezeigt, wie die Ausbildung dieser Fähigkeit frühzeitig explizit in den Grundschulunterricht eingebettet werden kann. Eine Steigerung der Selbstregulation befähigt Kinder, mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen und sich selbst Ziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten.

Einfach in den regulären Stundenplan einbaubar

Aufgrund von Bedenken aus der bisherigen Praxis haben die Studienautoren und -autorinnen die Trainingseinheiten äußerst kosten- und zeitsparend gestaltet, sodass sie in jedem Grundschulsetting eingeführt werden können: Die Trainingseinheit dauerte nur fünf Stunden, und Lehrer:innen nahmen an einer dreistündigen Schulung teil und erhielten fertig entwickelte Unterrichtsmaterialien, die sie direkt in den regulären Unterrichtsablauf integrieren konnten.

Die Trainingseinheiten basierten auf der MCII-Strategie („Mental Contrasting with Implementation Intentions“), die bereits Gegenstand hervorragender Forschungsstudien bei Erwachsenen und älteren Schülern war. Die abstrakte Strategie wurde von den Lehrkräften spielerisch anhand eines Bilderbuchs und dem Vorbild eines Hürdenspringers vorgestellt. In einem ersten Schritt stellten sich die Kinder die positiven Auswirkungen einer Zielerreichung vor. Sie stellten ihnen die Hindernisse gegenüber, die ihnen auf dem Weg begegnen könnten („Mental Contrasting“). Die Kinder identifizierten dann spezifische Verhaltensweisen, um den Hindernissen zu begegnen, und entwickelten „Wenn-dann“-Pläne („Umsetzungsabsicht“).

Positive Wirkung auf die Gesellschaft

„Das Besondere an unserer Studie sind die langfristigen Nachwirkungen, die diese kurze Trainingseinheit haben kann. Diese Effekte kommen dem Kind zugute und übertragen sich im Laufe des Lebens in vielfältiger Weise auf die Gesellschaft als Ganzes“, betonte Erstautor Daniel Schunk, Professor für Public and Behavioral Economics an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Dass frühe Investitionen in solch grundlegende Fähigkeiten nicht nur dem Kind allein, sondern auch der Gesellschaft zugutekommen, sollte in der Bildungspolitik stärker berücksichtigt werden.“

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 10.02.2023

Intervallfasten: Gefahr des Übergangs zu Essstörungen beachten

Kanadische Forscher:innen haben bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Intervallfasten praktizieren, eine Neigung zu Essstörungen beobachtet. Insbesondere bei weiblichen Teilnehmerinnen war das Intervallfasten häufig mit Überessen, Essanfällen, Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln verknüpft.

Männliche Intervallfasten-Anhänger neigten im Vergleich zu nicht fastenden Probanden eher zu zwanghaftem Training bzw. Sportsucht und zu Essstörungen. „Wollen Jugendliche abnehmen, empfehlen sich Programme, die extra für diese Altersgruppe zugeschnitten sind und die mehr Bereiche erfassen, um eine Lebensstilveränderung und Normalisierung des Gewichts zu erzielen. Bewegung, Ernährungswissen und Ernährungsverhalten gehören dazu“, rät Dr. Monika Niehaus, Kinder- und Jugendärztin und Mitglied des Expertengremiums vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Gerade in der Wachstumsphase müssen Heranwachsende ausreichend mit Nährstoffen versorgt sein. Beim Intervallfasten verzichten Menschen für bestimmte Zeiträume auf das Essen. Die Fastenintervalle können von bestimmten Tageszeiten bis zu bestimmten Wochentagen reichen. So kann das Essen beispielsweise tagsüber auf einen Zeitraum von 6 Stunden beschränkt sein, während 18 Stunden keine Nahrung verzehrt wird. Ein Argument gegen das Intervallfasten ist, dass viele klinische Studien keine deutliche Verbesserung des Intervallfastens gegenüber einer Einschränkung der Kalorienaufnahme gezeigt haben. Da bei dieser Ernährungsumstellung über längere Zeit keine Nahrung aufgenommen wird, kann eine Unterzuckerung auftreten. Falls der Körper nicht genug Protein erhält, kann auch Muskelschwund die Folge sein.

Eine umfangreiche polnische Übersichtsarbeit, die mehrere Studien (23 Abnehmprogramme mit 1587 Kindern) zu diesem Thema ausgewertet hat, kommt zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Gewichtsnormalisierung bei Kindern und Jugendlichen am besten mit einer Kombination aus Diät und körperlicher Aktivität, der Beteiligung eines Ernährungsspezialisten/einer Ernährungsspezialistin und eines Arztes/einer Ärztin im Behandlungsteam und einer längeren Interventionsdauer zu erreichen sei. Positiver Nebeneffekt ist demnach, dass eine Abnahme des BMI meist mit einer Verbesserung der Blutfettwerte und des Blutdrucks verbunden ist. „Eine Reha kann bei starkem Übergewicht zu längerfristigen Änderungen verhelfen. Bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer speziellen Kinder- und Jugend-Rehaklinik lernen Kinder u.a. ein ‚gesundes‘ Ess- und Bewegungsverhalten und wie sie positive Veränderungen auch über die Reha hinaus in den Alltag einbauen können. Der Kinder- und Jugendarzt bzw. die Kinder- und Jugendärztin kann Eltern bei einem Antrag helfen“, so Dr. Niehaus.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 01.02.2023

Alkoholmissbrauch als Jugendlicher zeigt noch zwei Jahrzehnte später Auswirkungen

Finnische Forscher:innen konnten in einer Zwillingsstudie nachweisen, dass sich starker Alkoholkonsum als Jugendlicher noch später im Erwachsenenalter bis zum Alter von 34 Jahren bemerkbar macht, und dies unabhängig von erblichen Veranlagungen.

Jugendliche leiden demnach als junge Erwachsene verstärkt unter Lebensunzufriedenheit, Gesundheits- und Alkoholproblemen. Die Gesundheitsprobleme können den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zufolge zum großen Teil auch mit einer weiter bestehenden Alkoholsucht zusammenhängen. „Dass vermehrter Alkoholkonsum in jungen Jahren das Risiko für späteren Missbrauch erhöht, ist schon länger bekannt. Die genauen Mechanismen sind noch nicht vollständig erforscht. Studien legen nahe, dass Alkoholkonsum in jungen Jahren die Belohnungsreaktion des Dopaminsystems auf Alkohol bis ins spätere Leben verstärkt und so Menschen längerfristig anfälliger für Alkoholsucht macht“, erklärt Prof. Dr. Hans-Jürgen Nentwich, Kinder- und Jugendarzt sowie Mitglied des Expertengremiums beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Wer im Alter von 12 Jahren beginnt, Alkohol zu trinken, hat ein um 41% erhöhtes Risiko, später unter Alkoholsucht zu leiden – verglichen mit 17% und 11% für diejenigen, die im Alter von 18 bzw. 21 Jahren damit anfangen.

Kritische Entwicklungsphase

Die Jugendjahre sind eine besonders anfällige neurologische Entwicklungsphase. „Bis zu einem Alter von Anfang zwanzig kann das jugendliche Gehirn brauchen, bis es vollständig ausgereift ist. Starker Alkoholkonsum wirkt sich besonders negativ auf die noch stattfindende Gehirnentwicklung aus. Schlechtere Impuls- und Aufmerksamkeitskontrolle, Probleme beim Lernen, Gedächtnisschwierigkeiten sind die Folge“, so Professor Nentwich. Der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge tranken 2021 8,7% der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen regelmäßig, also mindestens einmal wöchentlich, Alkohol. 2004 waren es noch 21,2%. Es gibt Hinweise darauf, dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen seit der Jahrtausendwende in fast allen Ländern mit hohem Einkommen zurückgegangen ist. Länder mit einer kritischeren Haltung gegenüber Alkohol, restriktiver Politik und einem stärkeren Fokus der öffentlichen Gesundheit auf Suchtvorbeugung haben den frühesten und steilsten Rückgang beim jugendlichen Alkoholkonsum erlebt Eine der vielversprechenderen Erklärungen für den Rückgang des Alkoholkonsums bei Jugendlichen sei auch eine Veränderung hin zu einer engagierteren Elternschaft, vermuten australische und schwedische Experten und Expertinnen in einer Überblicksarbeit zu diesem Thema im „European Journal of Public Health“.

Eltern haben bei Jugendlichen immer noch Einfluss

Eltern sollten sich der Bedeutung von Regeln in der Familie bewusst sein und klar äußern, dass sie Drogenkonsum missbilligen. Schwedische und italienische Forscher:innen kamen in einer in„Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology“ veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass Jugendliche, deren Eltern in Bezug auf Alkoholkonsum oder Zigarettenrauchen freizügig waren, ein doppelt so hohes Risiko hatten, später zu Drogen zu greifen, verglichen mit Jugendlichen, deren Eltern eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber Suchtmitteln einnahmen. Die Experten und Expertinnen analysierten Längsschnittdaten von 3.171 12- bis 14-jährigen Schülern aus 7 europäischen Ländern.

Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 1.01.2023

Jugendliche und junge Erwachsene: Normales wird pathologisiert

Fragwürdige Selbstdiagnosen und gefährliches Coaching in sozialen Netzwerken, vor allem über Tiktok, nehmen zu. Manche psychischen Erkrankungen werden so quasi über Nacht zu einem regelrechten Hype gemacht. Das birgt Gefahren.

Pubertät und frühes Erwachsenenalter sind Lebensphasen, in denen junge Menschen sich selbst suchen. Sie wollen wissen, wer sie sind, was sie ausmacht und was es bedeutet, wenn sie sich mal so und mal anders fühlen. Daher suchen sie häufig im Internet nach Antworten und Erklärungen, insbesondere in bestimmten Online-Foren, in Social Media und auf Videoplattformen. Dort stoßen sie unweigerlich auf Blogs, Texte und Videos, in denen zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene von ihren psychischen Erkrankungen berichten. Diese wurden jedoch oft nicht von einem Psychotherapeuten oder Psychiater, sondern von ihnen selbst diagnostiziert.

Die „Finger-Methode“

Um zu einer Selbstdiagnose zu gelangen, werden unter anderem Videos angeschaut, in denen Fachleute, Laien und Betroffene psychische Störungen beschreiben oder entsprechende Symptome vorführen, es wird nach (Fach-)Artikeln gesucht und es werden Anleitungen zu Selbstdiagnosen befolgt, die im Netz kursieren und nicht selten von jungen Laien „entwickelt“ wurden wie etwa die „Finger-Methode“: Dabei zeigt der selbst ernannte Experte dem Zuschauer mehrere ausgestreckte Finger und fordert ihn auf, ebenfalls seine Finger auszustrecken. Jeder Finger entspricht einem Symptom einer bestimmten psychischen Störung (zum Beispiel Depressionen). Dann nennt der „Experte“ nacheinander vermeintlich typische Symptome (zum Beispiel „Ich fühle mich öfters niedergeschlagen“). Meint der Zuschauer, an sich das jeweilige Symptom beobachtet zu haben, soll er einen Finger beugen. Je mehr Finger er am Ende der „Diagnosestellung“ nach unten gebeugt hat, desto mehr Symptome weist er auf und desto wahrscheinlicher ist er angeblich an der jeweiligen Störung erkrankt. Von dieser „Methode“ gibt es unterschiedliche Varianten.

Informationen und Videos zu psychischen Störungen werden in sozialen Netzwerken stark über Tiktok verbreitet, aber auch über Youtube, Facebook, Tumblr oder Instagram. Sie sind von unterschiedlicher Qualität und Dauer und rangieren von Nonsense oder sogar Fake bis hin zu seriös, informativ, hilfreich und gut gemacht. Für den Laien ist dies nicht immer einfach zu unterscheiden.

Matt Walsh, ein amerikanischer Journalist und Autor aus Nashville, ist der Meinung, dass Tiktok maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es „in“ bei Jugendlichen wurde, sich mit psychischen Störungen zu beschäftigen und sie bei sich selbst zu diagnostizieren. Er hält Social Media und besonders Tiktok für eine „Brutstätte sozialer Ansteckung“, durch die so manches, das bislang eher nebensächlich, belanglos oder unbeachtet war, quasi über Nacht zu einem Trend oder einem regelrechten Hype gemacht wird. Beispielsweise war die dissoziative Identitätsstörung (DIS; auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt) lange Zeit fast nur in Fachkreisen bekannt, bis sie auf einmal extrem populär wurde und Videos dazu weltweit millionenfach angesehen und geteilt wurden.

Neben der DIS gehören auch Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Tourettesyndrom, Trichotillomanie, Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörung sowie Störungen mit hochfunktionaler Ausprägung zu den bei jungen Menschen momentan besonders „angesagten“ psychischen Erkrankungen. Sie werden vermutlich deshalb auffallend häufig selbstdiagnostiziert, weil sie offenbar „spektakulär“ und „exotisch“ genug sind, um sich damit hervortun zu können.

Die Beschäftigung vieler junger Menschen mit psychischen Störungen geht nicht nur mit einer sprunghaften Zunahme an Selbstdiagnosen einher, sondern auch damit, dass Normales pathologisiert wird. Dies zeigt sich zum einen daran, dass Veränderungen und Entwicklungsprozesse, die in der Pubertät vorkommen können, nicht als üblich, sondern als Störung gedeutet werden, zum Beispiel Stimmungsschwankungen als bipolare Störung oder Identitätskrisen als DIS. Zum anderen wird alltäglichen Empfindungen, Zuständen und Unzulänglichkeiten mithilfe von Fachbegriffen ein krankheitswertiger Charakter verliehen. Beispielsweise wurde man „getriggert“, wenn man heftig emotional reagiert hat, oder „traumatisiert“, wenn man etwas Unangenehmes erlebt hat. Man bezeichnet sich als „zwanghaft“, wenn man ordnungsliebend ist, oder als „depressiv“, wenn man bedrückt, verstimmt oder traurig ist, und spricht gleich von einer „Panikattacke“, wenn man einfach nur heftig erschrickt.

Stigmatisierung nimmt ab

Die amerikanische Psychologin PhD Bre-Ann Slay aus Kansas City findet es an sich positiv, dass das Interesse an psychischen Erkrankungen gestiegen ist. Dies lässt ihrer Meinung nach darauf hoffen, dass die Akzeptanz psychischer Störungen und psychisch Kranker steigt, dass ihre Stigmatisierung nachlässt und dass psychische Erkrankungen in vielen Fällen frühzeitig entdeckt und behandelt werden können.

Slay kann es nachvollziehen, dass es für junge Menschen einfach und verlockend ist, sich online in der stetig wachsenden Mental Health Community zu bewegen und sich mit nur wenigen Klicks zu informieren und verstanden zu fühlen. Problematisch daran ist ihrer Meinung nach aber, dass die Jugendlichen oft dubiosen Influencern folgen und sich dann keine professionelle Hilfe mehr suchen, sodass ihre Selbstdiagnosen nicht von Fachleuten überprüft und korrigiert werden. Dann kann es passieren, dass sich die Jugendlichen unnötige Sorgen machen, an einer ernsthaften psychischen Störungen zu leiden, und dass tatsächlich vorhandene psychische und körperliche Erkrankungen (zum Beispiel Hirntumore) übersehen und nicht adäquat behandelt werden.

Slay findet es zudem fragwürdig, dass durch millionenfach gestellte Selbstdiagnosen der Eindruck erweckt wird, dass eigentlich sehr selten vorkommende Erkrankungen wie die DIS enorm verbreitet seien und dass man keine fachliche Ausbildung benötige, sondern sich nur ein paar Tiktok-Videos anzuschauen brauche, um sich mit komplexen Störungsbildern wie bei der DIS „auszukennen“.

Die Psychologin kritisiert aber vor allem, dass manche Jugendliche ihre selbstdiagnostizierten Störungen als Ausrede oder Vorwand missbrauchen und dass sie Mitleid, Rücksichtnahme, Schonung und eine bevorzugte Behandlung einfordern, so als hätten sie ein echtes Handicap. Es stört sie auch, dass psychische Störungen von einigen dazu eingesetzt werden, um in den sozialen Netzwerken aufzufallen, um sich wichtig zu machen und um viele „Likes“ und hohe Zugriffszahlen (unter anderem durch „Clickbaiting“) zu erlangen.

Geradezu anmaßend findet sie es jedoch, dass so viele junge Menschen psychische Störungen auf eine bestimmte Weise „cool“ finden und meinen, dass es sie „besonders“ mache, wenn sie sie „vorweisen“ können. „Sie wissen nicht, wie es ist, wirklich psychisch krank zu sein, sonst würden sie so nicht denken“, meint Slay.

Viele Blogs, Texte und Videos beschränken sich nicht darauf, über psychische Störungen zu informieren oder Selbstdiagnosemethoden vorzuführen, sondern verfolgen auch finanzielle Interessen. So werden beispielsweise Fern- und Fremddiagnosen, Bücher, Fragebögen, Tests, Beratungen, Seminare, Coachings und sogar „Therapien“ gegen Bezahlung angeboten. Die Anbieter besitzen oft weder eine fachliche Ausbildung noch Skrupel. Daher sind manche Coachings oder Therapien nicht nur nutzlos, sondern regelrecht gefährlich. Ein Beispiel ist das sogenannte „Anorexie“- oder „Pro-Ana-Coaching“. Die selbst ernannten „Coaches“ sind in der Regel Männer, die labile magersüchtige Mädchen und junge Frauen über längere Zeiträume mittels Chats etwa bei Instagram dazu anspornen, weiter abzunehmen. Sie schrecken dabei vor massiver psychischer Gewalt in Form von Drohungen, Erpressungen, Bestrafungen, Beleidigungen und Erniedrigungen nicht zurück und treiben die Betroffenen noch stärker in die Sucht. Den „Coaches“ geht es dabei um Macht, Dominanz und Sexualkontakte mit ihren Opfern.

Trotz solcher Gefahren sind manche Jugendliche so stark mit ihren vermeintlichen Störungen beschäftigt, dass sie in einer Art mentalen Tunnel feststecken, in dem nicht einmal ihre Eltern sie erreichen können. Die amerikanische Psychologin PhD Holly Schiff aus Greenwich rät Eltern, sich dadurch nicht verunsichern zu lassen, sondern zu versuchen, ihre Kinder von schädlichen Einflüssen abzubringen, und sie darin zu unterstützen, sich qualifiziert helfen zu lassen.

Psychotherapeuten und Psychiater erleben immer öfter, dass junge Patienten ihnen bei der Erstberatung Diagnosen aus dem Internet zu überwiegend seltenen psychischen Erkrankungen präsentieren. Ihre Reaktionen darauf fallen unterschiedlich aus: Einige Therapeuten finden es hilfreich, wenn Patienten sich bereits mit psychischen Störungen befasst haben und ihre Symptome anschaulich beschreiben können, andere sind hingegen wenig begeistert, weil vorinformierte Patienten von ihren mangelhaften und irreführenden Selbstdiagnosen oft sehr überzeugt sind und unnötigerweise Versorgungskapazitäten in Anspruch nehmen.

Testverfahren zur Überprüfung

Der amerikanische Kinderpsychologe David Rettew an der University of Vermont (USA) empfiehlt Therapeuten, die selbstgestellten Diagnosen mithilfe bewährter Testverfahren zu überprüfen. Er rät: „Therapeuten sollten die Sorgen der Patienten ernst nehmen, zugleich aber den Selbstdiagnosen gegenüber so lange skeptisch bleiben, bis sie entweder bestätigt oder widerlegt werden können.“ Zusätzlich sollte darauf geachtet werden, ob die Nutzung von Social Media mit negativen Auswirkungen wie Selbstwertproblemen oder Abhängigkeit einhergeht.

Laut Slay kann es auch sinnvoll sein, die Unterschiede zwischen selbst und fachkundig gestellten Diagnosen zu erläutern und Peers hinzuzuziehen, um die Hilfesuchenden zu einem kritischen Umgang mit der Thematik zu bewegen. So kann zum Beispiel auf die steigende Zahl an Videos in den sozialen Netzwerken hingewiesen werden, in denen junge Menschen vor Selbstdiagnosen warnen, und es kann dazu geraten werden, eine längere Pause von Social Media einzulegen. 

Quelle: www.aerzteblatt.de / PP 22, Ausgabe Januar 2023