Prävention psychischer Erkrankungen: Noch ziemlich am Anfang

In Zeiten von Krisen, wie der Coronapandemie, dem Angriffskrieg gegen die Ukraine oder der immer spürbarer werdenden Klimakatastrophe, nehmen psychische Erkrankungen zu. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben kaum noch Kapazitäten, die vielen Hilfesuchenden unterzubringen. Das Warten auf einen Therapieplatz nach dem Erstgespräch wird immer länger. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von ebenfalls zunehmenden Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen kann sich das Land langfristig nicht mehr erlauben, auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel. Vom Leid der Betroffenen ganz abgesehen.

Neben dem dringend notwendigen Ausbau von Behandlungsangeboten wäre es notwendig, einen Schritt früher anzusetzen und psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Im somatischen Bereich gibt es regelhafte Vorsorgeuntersuchungen wie die U-Untersuchungen für Kinder und Jugendliche oder die diversen Check-ups für Erwachsene. Zur Prävention psychischer Erkrankungen beziehungsweise zur Förderung der psychischen Gesundheit gibt es hingegen nicht viel. „Wir stehen noch ziemlich am Anfang. In der Bevölkerung gibt es wenig Wissen darüber, was sie für ihre psychische Gesundheit tun können“, sagte Dr. phil. Andrea Benecke, Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Mentale Gesundheit – Raus aus der Defensive“. Präventiv wirksam sei grundsätzlich, sich selbstwirksam zu erleben, sozial eingebunden zu sein und soziale Unterstützung zu erleben.

Viele Menschen erleben eben das nicht und fühlen sich einsam. Immerhin reagiert das Bundesfamilienministerium mit einer „Strategie gegen Einsamkeit“ seit dem vergangenen Jahr auf diese gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Es geht darum, Wissen über Einsamkeit zu vertiefen, um die Sensibilität zu erhöhen. Es geht aber auch darum, Orte für gemeinsames Erleben zu schaffen.

Darüber hinaus müsste mehr Menschen, von denen man weiß, dass sie ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen haben, aufsuchende Angebote gemacht werden. Darauf wies jedenfalls die BPtK-Präsidentin hin. Zum Beispiel sozialökonomisch schwächeren Menschen, Kinder psychisch oder suchtkranker Eltern. Zudem sollten die U- und J-Untersuchungen bei Kinderärzten in Bezug auf die Erfassung von psychischen Belastungen angepasst werden, um früher eingreifen zu können, wenn die psychischen Belastungen zu viel werden. Sinnvoll könnte auch ein Schulfach „Gesundheitsvorsorge“ sein, bei dem die psychische Gesundheit nicht fehlen darf, oder ein Schulfach Psychologie, Stichwort „mental health literacy“.

Für Schülerinnen und Schüler ist das Modellprogramm des Bundesfamilienministeriums eine gute Initiative: An rund 100 Schulen sind jetzt „Mental Health Coaches“ im Einsatz. Sozialpädagogen vermitteln dabei Wissen über psychische Gesundheit und vermitteln vertiefende Hilfs- und Beratungsangebote (Seite 437). Bei Zehntausenden Schulen in Deutschland ist das Programm naturgemäß ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin ein Anfang. Wenn das Programm gut läuft, sollte nicht vergessen werden, es zu verstetigen. Ebenso wie die vielen anderen Projekte zur Prävention, die nach der Modellphase oft einfach auslaufen.

Quelle: www.aerzteblatt.de; PP 22, Ausgabe Oktober 2023