Berlin – „Schon zu Beginn der Pandemie sind wir davon ausgegangen, dass die Auswirkungen auf die Psyche erheblich sein würden. Die ausgewerteten Studien und Statistiken bestätigen unsere Befürchtungen“, sagte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) gestern anlässlich des Jahressymposiums des Verbandes „Pandemie und Psyche“ und des „Reports Psychotherapie 2023“ zum Thema „Psychische Gesundheit in der COVID-19-Pandemie“.
Der Report Psychotherapie fasst kompakt die aktuelle Studienliteratur zu dem Thema zusammen. „Die COVID-19-Pandemie war eine ernste Krise für die psychische Gesundheit – das zeigen uns die Studien-Ergebnisse deutlich“, sagte Enno Maaß, stellvertretender Bundesvorsitzender der DPtV und Co-Autor des Reports.
„Sowohl die Infektion selbst als auch die Folgen der Pandemie-Bedingungen haben die psychischen Ressourcen der Menschen angegriffen – und zu einem deutlich erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen geführt.“
Die Daten legen Maaß zufolge einen Zusammenhang nah: Je stärker die Einschränkung der gewohnten Bedingungen war, desto stärker zeigten sich individuelle psychische Auswirkungen. „Bei Schulschließungen und den Bedingungen in Alten- und Pflegeheimen wurde dies besonders sichtbar“, so der Psychotherapeut.
„Für Deutschland fehlen belastbare Daten. Internationale Studien haben jedoch gezeigt, dass Depressionen und Angststörungen seit Beginn der COVID-19-Pandemie zugenommen haben“, berichtete Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald.
Die Studien wiesen zudem darauf hin, dass bestimmte Gruppen durch die Pandemie besonders psychisch belastet waren und sind: Kinder und Jugendliche, sozial Benachteiligte, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit körperlichen und psychischen Vorerkrankungen, Hochbetagte in Pflegeheimen sowie Patienten mit Post-COVID-Syndrom. Diese vulnerablen Gruppen müsse man in den Fokus nehmen.
„Immer mehr Betroffene suchen Hilfe, aber das Versorgungssystem ist auf den großen Ansturm nicht vorbereitet“, erklärte Brakemeier. Beispielsweise stünden aktuell 450 Menschen auf der Warteliste für eine Psychotherapie am Zentrum für Psychologische Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald. Vor der Pandemie seien es im Durchschnitt 90 Hilfesuchende gewesen.
Im bundesweiten Durchschnitt warten nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) Patientinnen und Patienten nach dem Erstgespräch bei einer niedergelassenen Psychotherapeutin /-therapeuten circa fünf Monate auf den Beginn einer Richtlinienpsychotherapie.
„Die große Nachfrage nach Psychotherapie ist auch auf die pandemiebedingte Enttabuisierung psychischer Erkrankungen zurückzuführen“, berichtete die Professorin. Die Selbstöffnung vieler prominenter Menschen während der Pandemie habe zu einer Entstigmatisierung geführt.
Mehr Forschung, aber auch mehr Fortbildung ist laut Hentschel und Brakemeier notwendig in Bezug auf die psychischen Auswirkungen von COVID-19-Erkrankungen. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zeigten, dass Betroffene nach überstandener Erkrankung neben einigen körperlichen Symptomen auch vermehrt unter Angst- und Depressionssymptomen, Fatigue oder verminderter kognitiver Belastbarkeit leiden.
„Eine hohe Prävalenz sehen wir vor allem bei Fatigue. Evidenzbasierte psychotherapeutische Strategien erhalten viele Patienten aber derzeit nicht“, sagte Brakemeier, die auf die „Long-COVID-Sprechstunde“ an der Universitätsmedizin Greifswald hin wies. Für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sei mehr Fortbildung zum Post-COVID-Syndrom erforderlich, Wissen über die Erkrankung müsse auch in das Psychotherapiestudium aufgenommen werden.
Der DPtV-Vorsitzende Hentschel betonte die Bedeutung einer guten differentialdiagnostischen Abklärung, um zwischen Fatigue und einer depressiven Störung unterscheiden zu können. „Patienten mit einer depressiven Störung profitieren etwa von Aktivierung und Gruppentherapie. Bei Fatigue ist beides kontraindiziert.“
Um die Folgen der Pandemie insbesondere für Kinder und Jugendliche aufzufangen, müsste Brakemeier zufolge „mehr Psychologie“, an die Schulen. Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Schulsozialarbeitende könnten betroffene Kinder unterstützen. Gut wäre laut der Psychotherapeutin auch, wenn ein Unterrichtsfach ‚Psychologie‘ in die Schulcurricula aufgenommen würde.
Helfen könnten zudem die von der Bundesregierung avisierten Mental-Health-Coaches an Schulen. Das Modellvorhaben im Rahmen des Bundesprogramms „Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit“ soll ab dem Schuljahr 2023/24 Schulen bei Fragen zur mentalen Gesundheit und bei akuten psychischen Krisen von Schülern unterstützen.
Bei einer erneuten Pandemie oder Naturkatastrophe müsse „psychotherapeutisches Know-how in Krisenstäben und im öffentlichen Gesundheitsdienst besser verankert werden“, fordert die DPtV. Außerdem sollten Prävention und Aufklärung im Bereich der psychischen Gesundheit gestärkt werden. „Wir sollten seelische Gesundheit immer mitdenken. Psychische Krankheiten können zwar ,leiser‘ verlaufen – sind aber keinesfalls harmlos“, sagte abschließend der stellvertretende DPtV-Vorsitzende Enno Maaß.
Quelle: www.aerzteblatt.de vom 15.06.2023