Jugendliche und junge Erwachsene: Normales wird pathologisiert

Fragwürdige Selbstdiagnosen und gefährliches Coaching in sozialen Netzwerken, vor allem über Tiktok, nehmen zu. Manche psychischen Erkrankungen werden so quasi über Nacht zu einem regelrechten Hype gemacht. Das birgt Gefahren.

Pubertät und frühes Erwachsenenalter sind Lebensphasen, in denen junge Menschen sich selbst suchen. Sie wollen wissen, wer sie sind, was sie ausmacht und was es bedeutet, wenn sie sich mal so und mal anders fühlen. Daher suchen sie häufig im Internet nach Antworten und Erklärungen, insbesondere in bestimmten Online-Foren, in Social Media und auf Videoplattformen. Dort stoßen sie unweigerlich auf Blogs, Texte und Videos, in denen zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene von ihren psychischen Erkrankungen berichten. Diese wurden jedoch oft nicht von einem Psychotherapeuten oder Psychiater, sondern von ihnen selbst diagnostiziert.

Die „Finger-Methode“

Um zu einer Selbstdiagnose zu gelangen, werden unter anderem Videos angeschaut, in denen Fachleute, Laien und Betroffene psychische Störungen beschreiben oder entsprechende Symptome vorführen, es wird nach (Fach-)Artikeln gesucht und es werden Anleitungen zu Selbstdiagnosen befolgt, die im Netz kursieren und nicht selten von jungen Laien „entwickelt“ wurden wie etwa die „Finger-Methode“: Dabei zeigt der selbst ernannte Experte dem Zuschauer mehrere ausgestreckte Finger und fordert ihn auf, ebenfalls seine Finger auszustrecken. Jeder Finger entspricht einem Symptom einer bestimmten psychischen Störung (zum Beispiel Depressionen). Dann nennt der „Experte“ nacheinander vermeintlich typische Symptome (zum Beispiel „Ich fühle mich öfters niedergeschlagen“). Meint der Zuschauer, an sich das jeweilige Symptom beobachtet zu haben, soll er einen Finger beugen. Je mehr Finger er am Ende der „Diagnosestellung“ nach unten gebeugt hat, desto mehr Symptome weist er auf und desto wahrscheinlicher ist er angeblich an der jeweiligen Störung erkrankt. Von dieser „Methode“ gibt es unterschiedliche Varianten.

Informationen und Videos zu psychischen Störungen werden in sozialen Netzwerken stark über Tiktok verbreitet, aber auch über Youtube, Facebook, Tumblr oder Instagram. Sie sind von unterschiedlicher Qualität und Dauer und rangieren von Nonsense oder sogar Fake bis hin zu seriös, informativ, hilfreich und gut gemacht. Für den Laien ist dies nicht immer einfach zu unterscheiden.

Matt Walsh, ein amerikanischer Journalist und Autor aus Nashville, ist der Meinung, dass Tiktok maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es „in“ bei Jugendlichen wurde, sich mit psychischen Störungen zu beschäftigen und sie bei sich selbst zu diagnostizieren. Er hält Social Media und besonders Tiktok für eine „Brutstätte sozialer Ansteckung“, durch die so manches, das bislang eher nebensächlich, belanglos oder unbeachtet war, quasi über Nacht zu einem Trend oder einem regelrechten Hype gemacht wird. Beispielsweise war die dissoziative Identitätsstörung (DIS; auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt) lange Zeit fast nur in Fachkreisen bekannt, bis sie auf einmal extrem populär wurde und Videos dazu weltweit millionenfach angesehen und geteilt wurden.

Neben der DIS gehören auch Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Tourettesyndrom, Trichotillomanie, Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörung sowie Störungen mit hochfunktionaler Ausprägung zu den bei jungen Menschen momentan besonders „angesagten“ psychischen Erkrankungen. Sie werden vermutlich deshalb auffallend häufig selbstdiagnostiziert, weil sie offenbar „spektakulär“ und „exotisch“ genug sind, um sich damit hervortun zu können.

Die Beschäftigung vieler junger Menschen mit psychischen Störungen geht nicht nur mit einer sprunghaften Zunahme an Selbstdiagnosen einher, sondern auch damit, dass Normales pathologisiert wird. Dies zeigt sich zum einen daran, dass Veränderungen und Entwicklungsprozesse, die in der Pubertät vorkommen können, nicht als üblich, sondern als Störung gedeutet werden, zum Beispiel Stimmungsschwankungen als bipolare Störung oder Identitätskrisen als DIS. Zum anderen wird alltäglichen Empfindungen, Zuständen und Unzulänglichkeiten mithilfe von Fachbegriffen ein krankheitswertiger Charakter verliehen. Beispielsweise wurde man „getriggert“, wenn man heftig emotional reagiert hat, oder „traumatisiert“, wenn man etwas Unangenehmes erlebt hat. Man bezeichnet sich als „zwanghaft“, wenn man ordnungsliebend ist, oder als „depressiv“, wenn man bedrückt, verstimmt oder traurig ist, und spricht gleich von einer „Panikattacke“, wenn man einfach nur heftig erschrickt.

Stigmatisierung nimmt ab

Die amerikanische Psychologin PhD Bre-Ann Slay aus Kansas City findet es an sich positiv, dass das Interesse an psychischen Erkrankungen gestiegen ist. Dies lässt ihrer Meinung nach darauf hoffen, dass die Akzeptanz psychischer Störungen und psychisch Kranker steigt, dass ihre Stigmatisierung nachlässt und dass psychische Erkrankungen in vielen Fällen frühzeitig entdeckt und behandelt werden können.

Slay kann es nachvollziehen, dass es für junge Menschen einfach und verlockend ist, sich online in der stetig wachsenden Mental Health Community zu bewegen und sich mit nur wenigen Klicks zu informieren und verstanden zu fühlen. Problematisch daran ist ihrer Meinung nach aber, dass die Jugendlichen oft dubiosen Influencern folgen und sich dann keine professionelle Hilfe mehr suchen, sodass ihre Selbstdiagnosen nicht von Fachleuten überprüft und korrigiert werden. Dann kann es passieren, dass sich die Jugendlichen unnötige Sorgen machen, an einer ernsthaften psychischen Störungen zu leiden, und dass tatsächlich vorhandene psychische und körperliche Erkrankungen (zum Beispiel Hirntumore) übersehen und nicht adäquat behandelt werden.

Slay findet es zudem fragwürdig, dass durch millionenfach gestellte Selbstdiagnosen der Eindruck erweckt wird, dass eigentlich sehr selten vorkommende Erkrankungen wie die DIS enorm verbreitet seien und dass man keine fachliche Ausbildung benötige, sondern sich nur ein paar Tiktok-Videos anzuschauen brauche, um sich mit komplexen Störungsbildern wie bei der DIS „auszukennen“.

Die Psychologin kritisiert aber vor allem, dass manche Jugendliche ihre selbstdiagnostizierten Störungen als Ausrede oder Vorwand missbrauchen und dass sie Mitleid, Rücksichtnahme, Schonung und eine bevorzugte Behandlung einfordern, so als hätten sie ein echtes Handicap. Es stört sie auch, dass psychische Störungen von einigen dazu eingesetzt werden, um in den sozialen Netzwerken aufzufallen, um sich wichtig zu machen und um viele „Likes“ und hohe Zugriffszahlen (unter anderem durch „Clickbaiting“) zu erlangen.

Geradezu anmaßend findet sie es jedoch, dass so viele junge Menschen psychische Störungen auf eine bestimmte Weise „cool“ finden und meinen, dass es sie „besonders“ mache, wenn sie sie „vorweisen“ können. „Sie wissen nicht, wie es ist, wirklich psychisch krank zu sein, sonst würden sie so nicht denken“, meint Slay.

Viele Blogs, Texte und Videos beschränken sich nicht darauf, über psychische Störungen zu informieren oder Selbstdiagnosemethoden vorzuführen, sondern verfolgen auch finanzielle Interessen. So werden beispielsweise Fern- und Fremddiagnosen, Bücher, Fragebögen, Tests, Beratungen, Seminare, Coachings und sogar „Therapien“ gegen Bezahlung angeboten. Die Anbieter besitzen oft weder eine fachliche Ausbildung noch Skrupel. Daher sind manche Coachings oder Therapien nicht nur nutzlos, sondern regelrecht gefährlich. Ein Beispiel ist das sogenannte „Anorexie“- oder „Pro-Ana-Coaching“. Die selbst ernannten „Coaches“ sind in der Regel Männer, die labile magersüchtige Mädchen und junge Frauen über längere Zeiträume mittels Chats etwa bei Instagram dazu anspornen, weiter abzunehmen. Sie schrecken dabei vor massiver psychischer Gewalt in Form von Drohungen, Erpressungen, Bestrafungen, Beleidigungen und Erniedrigungen nicht zurück und treiben die Betroffenen noch stärker in die Sucht. Den „Coaches“ geht es dabei um Macht, Dominanz und Sexualkontakte mit ihren Opfern.

Trotz solcher Gefahren sind manche Jugendliche so stark mit ihren vermeintlichen Störungen beschäftigt, dass sie in einer Art mentalen Tunnel feststecken, in dem nicht einmal ihre Eltern sie erreichen können. Die amerikanische Psychologin PhD Holly Schiff aus Greenwich rät Eltern, sich dadurch nicht verunsichern zu lassen, sondern zu versuchen, ihre Kinder von schädlichen Einflüssen abzubringen, und sie darin zu unterstützen, sich qualifiziert helfen zu lassen.

Psychotherapeuten und Psychiater erleben immer öfter, dass junge Patienten ihnen bei der Erstberatung Diagnosen aus dem Internet zu überwiegend seltenen psychischen Erkrankungen präsentieren. Ihre Reaktionen darauf fallen unterschiedlich aus: Einige Therapeuten finden es hilfreich, wenn Patienten sich bereits mit psychischen Störungen befasst haben und ihre Symptome anschaulich beschreiben können, andere sind hingegen wenig begeistert, weil vorinformierte Patienten von ihren mangelhaften und irreführenden Selbstdiagnosen oft sehr überzeugt sind und unnötigerweise Versorgungskapazitäten in Anspruch nehmen.

Testverfahren zur Überprüfung

Der amerikanische Kinderpsychologe David Rettew an der University of Vermont (USA) empfiehlt Therapeuten, die selbstgestellten Diagnosen mithilfe bewährter Testverfahren zu überprüfen. Er rät: „Therapeuten sollten die Sorgen der Patienten ernst nehmen, zugleich aber den Selbstdiagnosen gegenüber so lange skeptisch bleiben, bis sie entweder bestätigt oder widerlegt werden können.“ Zusätzlich sollte darauf geachtet werden, ob die Nutzung von Social Media mit negativen Auswirkungen wie Selbstwertproblemen oder Abhängigkeit einhergeht.

Laut Slay kann es auch sinnvoll sein, die Unterschiede zwischen selbst und fachkundig gestellten Diagnosen zu erläutern und Peers hinzuzuziehen, um die Hilfesuchenden zu einem kritischen Umgang mit der Thematik zu bewegen. So kann zum Beispiel auf die steigende Zahl an Videos in den sozialen Netzwerken hingewiesen werden, in denen junge Menschen vor Selbstdiagnosen warnen, und es kann dazu geraten werden, eine längere Pause von Social Media einzulegen. 

Quelle: www.aerzteblatt.de / PP 22, Ausgabe Januar 2023