Das Forschungsfeld ist bereits über 25 Jahre alt. Während zu Beginn vor allem der Einsatz bei Phobien untersucht wurde, hat die Forschung inzwischen auch Erkenntnisse zur Effektivität in der Behandlung weiterer Störungsbilder gesammelt.
Virtuelle Realitäten (VR) ermöglichen die Interaktion mit einer computergenerierten, dreidimensionalen Umgebung in Echtzeit. Die Beobachtung, dass virtuelle Reize reale Ängste auslösen, die von physiologischen Symptomen wie erhöhtem Blutdruck und Schwitzen begleitet werden, führte bereits vor 25 Jahren zu dem Versuch, VR als Ergänzung der konventionellen Expositionstherapie bei Angststörungen zu nutzen. In der herkömmlichen Expositionstherapie geschieht diese Konfrontation entweder in der Realität (Exposition In-vivo) oder durch die reine Vorstellung einer solchen Situation (Exposition In-sensu). Die Anwendung von VR stellt somit einen Mittelweg zwischen dem Erleben und der Vorstellung angstauslösender Reize dar.
Dass Menschen virtuelle Umgebungen als real erleben und diese somit therapeutisch nutzbar sind, bedingt zwei Voraussetzungen, die unter den Begriffen „Immersion“ und „Präsenz“ gefasst werden. Immersion beschreibt die objektiven Merkmale der Medienumgebung wie zum Beispiel die visuelle, auditive und taktile Darstellung der virtuellen Umgebung in Dreidimensionalität sowie die synchrone Interaktivität mit dem computergenerierten Modell mithilfe Gestik, Mimik, Sprache oder Körperposition. Spezifische Outputsysteme (zum Beispiel Datenbrille) ermöglichen die Wahrnehmung der virtuellen Umgebung, spezifische Inputsysteme (zum Beispiel Datenhandschuh, Spracherkennungssysteme, Positionsbestimmungssysteme, Systeme zur Blickrichtungserkennung) die Kommunikation mit ihr. Das Präsenzerleben hingegen beschreibt das damit einhergehende subjektive Gefühl, dass man sich selbst in der virtuellen Umgebung befindet und diese Umgebung real ist. Merkmale sind ein Gefühl, sich selbst „dort“ zu befinden, das Ausblenden von Reizen aus der realen Welt und unwillkürliche Körperbewegungen, die objektiv keinen Sinn ergeben. Ein Beispiel wäre das „in die Knie gehen“, um sich bei der Überquerung einer virtuellen Brücke über einem virtuellen Abgrund am realen Fußboden abzusichern.
Störungsbilder
Die psychologische Grundlagenforschung hat in den vergangenen Jahren wesentlich zum Verständnis des Präsenzerlebens in virtuellen Umgebungen beigetragen. Mittlerweile konnte eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungsansätze zeigen, dass virtuelle Umgebungen sehr gut in der Lage sind, der Nutzerin oder dem Nutzer Sinneserfahrungen, Emotionen und Interaktionen so zu evozieren, dass sie oder er sie nicht von realen Erlebnissen unterscheiden kann.
Die Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung hat inzwischen für eine Reihe von Störungsbildern den Einsatz von VR untersucht. Während vor allem unter verhaltenstherapeutischer Perspektive die Wirksamkeit erforscht wurde, liegen inzwischen auch dezidiert psychoanalytische Betrachtungen vor.
Im Folgenden werden ausgewählte frühe Studien mit aktuellen Befunden für verschiedene Störungsbilder kontrastiert.
Angststörungen: Frühe Metaanalysen zeigten, dass VR-Behandlungen bei Angststörungen hoch effektiv (im Vergleich zur Wartekontrollgruppe: mittleres d = 1,11) und mindestens so wirksam wie In-vivo-Therapie (mittleres d = 0,34) sind. Eine aktuelle Metaanalyse mit 30 Studien (Spezifische Phobien: 14 Studien, Soziale Phobie: 8 Studien, PTBS: 3 Studien, Panikstörung: 3 Studien) und 1 057 Probandinnen und Probanden belegt ebenso eine mittlere bis große Effektgröße für VR im Vergleich zu psychologischen Placebobedingungen (g = 0,78). Im Vergleich von VR und In-vivo-Bedingungen konnten keine signifikant unterschiedlichen Effektstärken (g = 0,07) gefunden werden. Vergleichsweise neu in der VR-Forschung ist die Berücksichtigung von negativen Behandlungseffekten, denen sich zum Beispiel Fernández-Álvarez et al. 2019 widmeten. Sie zeigten, dass die Verschlechterungsraten bei VR und traditionellen Behandlungen gleich hoch sind.
Während die allerersten randomisiert-kontrollierten Studien sich auf die VR-unterstützte Expositionstherapie von Menschen mit Höhenangst bezogen und alsbald durch Metaanalysen erhärtet wurden, so geht der Trend heute dahin zu untersuchen, ob auch eine vollständig selbstgesteuerte, auf einer App basierende kognitive Verhaltenstherapie (KVT) in virtueller Realität Erfolg versprechend ist. Donker et al. untersuchten im Jahr 2019 die App ZeroPhobia: Die Module nahmen zwischen 5 und 40 Minuten in Anspruch. Die Teilnehmenden wurden gebeten, die gesamte Intervention innerhalb von drei Wochen in ihrer natürlichen Umgebung zu absolvieren. Neben der Psychoedukation und den KVT-Techniken umfasste die VR-KVT-App eine spielerische immersive VR-Umgebung und vier 360-Grad-Videos, die das gesamte Expositionsspektrum abdeckten. Die Teilnehmenden nutzten die VR und die 360-Grad-Videos ab dem dritten Modul und navigierten mithilfe der Blicksteuerung durch die virtuelle Umgebung. In einer randomisiert-kontrollierten Studie mit 193 Teilnehmenden zwischen 18 und 63 Jahren konnte eine signifikante Verringerung der Akrophobie-Symptome beim Posttest nach drei Monaten für die VR-App im Vergleich zur Kontrollgruppe (d = 1,14) verzeichnet werden, sodass die Autorinnen und Autoren zu dem Schluss kommen, dass eine App mit einer rudimentären Virtual-Reality-Brille zu einer starken Verringerung der Akrophobie-Symptome führt.
Auch die Flugangst, die häufig mit schwerwiegenden wirtschaftlichen, sozialen, beruflichen und emotionalen Folgen einhergeht, zählt zu den ersten Phobien, die in der VR-Forschung untersucht wurde. Während frühe Studien schon zeigten, dass nach der VR-Exposition die Teilnahme an einem Anschlussflug für den langfristigen Therapieerfolg wichtig ist – wobei die Begleitung durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten wenig Einfluss hatte, belegt eine aktuelle Studie die Wirksamkeit auch nochmals für langfristige Effekte. In einer retrospektiven Befragung von Patientinnen und Patienten mit VR-Therapie (von 209 erklärten sich 98 zur Teilnahme bereit) wurden als Ergebnisgrößen die Flugaktivitäten vor und nach der Behandlung (Belege: Bordkarten) wie folgt erfasst: 1. die Anzahl der Flüge pro Monat (FpM) und 2. die Anzahl der Flugstunden pro Monat (FHpM). Für alle Teilnehmenden wurden diese Ergebnisse für den Zeitraum nach der VR-Behandlung (≥ 6 Monate) und den entsprechenden Zeitraum vor der Behandlung berechnet. Im Ergebnis zeigte sich, dass FpM und FHpM im Vergleichszeitraum signifikant anstiegen.
Bezüglich der VR-Anwendung bei der Sozialen Phobie kamen Emmelkamp et al. in einem aktuellen Review zu dem Ergebnis, dass die meisten Studien zur Redeangst existieren. Nur sehr wenige Studien hätten die Soziale Phobie untersucht, von denen die meisten eine Mischung von VR beziehungsweise In-vivo-Exposition und kognitiver Verhaltenstherapie anwendeten, sodass unklar bliebe, wie hoch der Effekt von VR ist. Hier wurden keine Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen festgestellt. Die reine Wirkung von VR als alleinige Behandlung sei nur in einer randomisiert-kontrollierten Studie untersucht worden, wobei VR der Exposition In-vivo hier nicht überlegen war. Die Autorin und Autoren kommen zu dem Schluss, dass ein deutlicher Bedarf an Studien besteht, die die Wirksamkeit von VR als eigenständige Behandlung und die beteiligten therapeutischen Prozesse untersuchen, bevor diese Therapie in der klinischen Routinepraxis verbreitet werden kann.
Bereits vor 20 Jahren wurde auch die VR-Therapie bei Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) erforscht, hier vor allem bei man-made-disastern wie dem Terrorangriff auf das Word-Trade-Center in New York 2001 oder bei Soldaten nach Kriegseinsätzen. Kothgassner et al. führten 2019 ein Review durch mit dem Ziel, die Wirksamkeit von VR bei PTBS im Vergleich zu Wartelisten- und aktiven Vergleichsgruppen zu untersuchen (9 kontrollierte Studien mit 296 Teilnehmenden). Im Vergleich zur Warteliste zeigte VR ein signifikant besseres Ergebnis für PTBS-Symptome (g = 0,62) und depressive Symptome (g = 0,50). Bei den PTBS-Symptomen (g = 0,25) und den depressiven Symptomen (g = 0,24) gab es nach der Behandlung keinen signifikanten Unterschied zwischen VR und den aktiven Vergleichsgruppen. Somit könne VR bei PTBS-Betroffenen ebenso wirksam sein wie aktive Vergleichstherapien; dabei besteht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung (mehr VR-Sitzungen zeigten größere Effekte). Einschränkend gilt jedoch, dass nur eine begrenzte Anzahl von Studien bei einer engen Auswahl an traumatischen Situationstypen und selektive Stichproben (meist männliche Militärangehörige) vorliegen, es keine längerfristigen Katamnesen gibt (maximal 3 Monate [17]) und ebenso keine Erfassung von Nebenwirkungen erfolgte. Diese könnten zum Beispiel in der Gefahr einer erneuten Traumatisierung bestehen, wenn die VR-Umgebung die traumatische Situation der oder des Betroffenen nicht genau abbildet oder auch zu einer Retraumatisierung führen, wenn vor der VR-Exposition keine ausreichende Stabilisierung erfolgte.
Psychotische Erkrankungen: Die Einsatzgebiete von VR bei psychotischen Erkrankungen sind nicht nur sehr vielfältig, sondern auch die Arten von Studien waren hier im Vergleich zu den anderen psychischen Erkrankungen wahrscheinlich am heterogensten, was die Komplexität des klinischen Problems und die unterschiedlichen Perspektiven auf die Diagnose und das Verständnis der Psychose widerspiegelt. Die Arbeitsgruppe um Daniel Freeman, Department für Psychiatrie der Oxford Universität, leistete Pionierarbeit bei der Arbeit mit VR im Zusammenhang mit Paranoia. VR wurde eingesetzt, um Paranoia zu bewerten, die individuellen Merkmale zu verstehen, die Paranoia voraussagen, psychologische Faktoren zu manipulieren, um die Ursachen von Paranoia zu ermitteln und um Verfolgungswahn im Kontext von Schizophrenie zu behandeln. Somit hat sich VR bei der Beurteilung von Paranoia als besonders nützlich erwiesen, da durch die Darstellung neutraler sozialer Situationen eher unbegründete als echte Feindseligkeit erkannt werden kann. Eine Behandlungsstudie der Arbeitsgruppe mit 30 Patientinnen und Patienten mit Wahnvorstellungen zeigte, dass die kognitive VR-Therapie potenziell viel wirksamer ist als die VR-Expositionstherapie, sowohl in Bezug auf die Verringerung der Wahnvorstellungen als auch auf die Verringerung des Leidensdrucks in realen Situationen. Ein eindrückliches Video zur Illustration findet sich unter https://www.youtube.com/ watch?v= 1t4_uXr9YiY.
Allerdings existiert noch keine Studie zu der Compliance mit VR von schizophrenen Patientinnen und Patienten.
Essstörungen: Es gibt verschiedene Anwendungsbereiche von VR in der Behandlung von Essstörungen: Verringerung des Essensverlangens, Verbesserung des Körperbildes und Verbesserung der Fähigkeiten zur Emotionsregulation. Im Vergleich zu den anderen oben genannten Störungsbildern gibt es in diesem Bereich vergleichsweise wenige methodisch solide Studien.
Geeignete VR-Umgebungen können Heißhunger auslösen, wobei die Reaktionen auf VR-Lebensmittel mit denen auf reale Lebensmittel vergleichbar sind. Mittels VR können also kritische Situationen (Küche, Supermarkt oder Restaurant) nachgestellt werden. Ziel ist es, in Verbindung mit kognitiv-behavorialen Therapiemethoden Coping-Strategien zu entwickeln, um mit negativen Emotionen, die mit dieser Situation verbunden sind, umzugehen. Erste Studien belegen, dass VR-Techniken, die der einer Standard-KVT hinzugefügt werden, zur Verbesserung des Körperbildes beitragen.
Weitere Störungen: Experimentiert wurde in sehr vereinzelten Studien auch mit der Integration von VR in die Behandlung von Depression und stoffgebundenen sowie nichtstoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen. Die Beobachtung, dass VR-Umgebungen ein starkes Craving hervorrufen können (für das Verlangen nach Zigaretten siehe zum Beispiel [24]), bedeutet, dass VR das Potenzial hat, erfolgreich in der Suchtbehandlung eingesetzt zu werden, auch wenn dies noch nicht rigoros nachgewiesen wurde. Barbe et al. zeigen in einem aktuellen Review, dass VR mittlerweile auch in der forensischen Psychiatrie ein vielversprechendes Werkzeug sein kann, welches bereits etablierte Instrumente ergänzen oder erweitern kann. Sie geben aktuelle Studienbeispiele zur klinischen Behandlung und Diagnose von Patientinnen und Patienten sowie der forensischen Prognose und Therapie von straffälligen Personen.
Chancen und Grenzen
VR-basierte Therapien gehen mit einer Reihe von Vorteilen einher, bergen aber auch Gefahren, die von der therapeutischen Fachkraft reflektiert werden müssen. Während in der Literatur vor allem aus praktischer Sicht Vorteile für Diagnostik und Intervention wie ökologische und personalisierte Interventionen und eine größere Verbreitung evidenzbasierter Behandlungen genannt werden, liegen nur für wenige Aspekte auch empirische Evidenzen vor. Während man zum Beispiel erhoffte, dass die Bereitschaft, sich überhaupt mit angstbesetzten Reizen auseinanderzusetzen, bei der VR höher ist als bei In-vivo-Expositionen, so weiß man heute, dass Therapieabbrüche in beiden Bedingungen gleich hoch sind (Benbow AA, Anderson PL: A meta-analytic examination of attrition in virtual reality exposure therapy for anxiety disorders. Journal of anxiety disorders 1. Januar 2019; 61: 18–26.).
Fazit
Es liegen eine Reihe von Studien vor, die die Wirksamkeit von VR in der Behandlung bei verschiedenen psychischen Störungen belegen. Der Evidenzgrad ist bei Angststörungen und hier vor allem bei umschriebenen Phobien am höchsten. Allerdings sind die vorliegenden Studien in der Regel so angelegt, dass sie Komorbiditäten ausschließen, was die klinische Wirklichkeit nicht widerspiegelt. Die vorliegenden Studien integrieren VR typischerweise in KVT-Behandlungen. Es stellt sich die Frage, ob diese Anwendungen zum Beispiel auch in psychodynamische Therapien eingebunden werden können. Hierbei gilt ganz allgemein, dass Medienunterstützung und damit auch VR als therapeutisches Adjuvant möglich ist, wenn zum einen das Primat der Beziehung vor dem Technikeinsatz beachtet wird und Kriterien für Indikation/Kontraindikation in die Entscheidung miteinfließen – wie unter anderem die individuelle Medienbiografie, das Strukturniveau und die Persönlichkeitsakzentuierung. Wiederhold, Gavshon und Wiederhold reflektieren die containende Umgebung von VR im Sinne der „holding function“ nach Bion, mithilfe derer progressive Entwicklung in Richtung Entwicklung neuer Skills möglich ist. Gleichzeitig könne die VR-Umgebung ein transformierendes Objekt sein, das intrapsychische Veränderungen ermöglicht, indem Erfahrungen in einem sicheren Raum (innerlich: Ich-Defizite reparieren, äußerlich: Bewältigung der Symptome/Angst) ermöglicht werden. Gleichzeitig ist die doppelte Übertragungsbeziehung zu beachten, die sich zur therapeutischen Fachkraft und zur VR einstellt.
Für die weitere Entwicklung und Erforschung des therapeutischen Potenzials von VR sind zum einen langfristige Katamnesen nötig sowie die Untersuchung von Persönlichkeitsvariablen (zum Beispiel Einstellungen gegenüber der Technik, Realitäts- und Identitätsverständnis, Imaginationsfähigkeit) als mögliche Moderatoren für die Wirksamkeit. Ein neues Forschungsfeld ist zudem die „Social VR“, das zum Beispiel danach fragt, ob jemand in einer VR-Expositions-Therapie davon profitieren kann, eine Avatar-Therapeutin oder einen Avatar-Therapeuten zu beobachten, die oder der nichtphobische Reaktionen modelliert.
Insgesamt wird in VR nicht nur ein klinisches Potenzial gesehen, sondern auch ein neues Paradigma für die Grundlagenforschung, Theoriebildung und Ausbildung. Wichtig ist daher eine umfassende Verständigung zwischen Forschung und Praxis, zumal bisher kein breiter Transfer von VR in das psychotherapeutische Versorgungsangebot stattgefunden hat – was wohl auch an einem geringen Wissen über VR in der psychotherapeutischen Anwendung liegt.
Quelle: www.aerzteblatt.de, PP 20, Ausgabe November 2021, Seite 515