Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, leidet meist auch das Umfeld. Bruder und Schwester werden dabei häufig übersehen, dabei können sie die Betroffenen unterstützen. Mitunter brauchen sie aber auch selbst Hilfe.
Christopher*, 32, bemerkt beim Geburtstag seines Großvaters sofort, dass mit seinem Bruder etwas nicht stimmt. Sie hatten sich ein paar Monate nicht gesehen. Aufgedreht und ohne Punkt und Komma erzählt der Bruder beim Kaffee von schlaflosen Wochen und zahlreichen Projekten, die er aktuell im Studium stemmt. Er hört auch dann nicht auf zu plappern, als er ohne direkten Gesprächspartner an einem Tisch sitzt und alle anderen Gäste einer Festrede des Onkels lauschen.
„Ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Christopher. Am Ende des Familienfestes spricht er seinen Bruder darauf an und erklärt ihm vorsichtig seine Sorge. Nicht immer verläuft es so positiv, aber der Bruder nimmt seine Bedenken an und geht nach ein paar Tagen von sich aus in eine Klinik.
Dort bestätigt sich Christophers Verdacht: Sein Bruder befindet sich inmitten einer Manie, dem Gegenstück zur Depression. Er braucht dringend professionelle Hilfe. Christopher hat ihn womöglich vor Schlimmerem bewahrt.
Eltern, Kinder und Geschwister leiden mit
Eine psychische Erkrankung trifft fast immer auch die Familie. Die Eltern, die Kinder, und eben auch die Brüder und Schwestern. Im Leben der Betroffenen spielen sie häufig eine große Rolle, sind mitunter wichtigste Ansprechpartner oder – wie Christopher – Ersthelfer in Krisen.
Es gibt Millionen Geschwister in Deutschland, doch als Helfer und zu Stützende werden sie häufig übersehen. Kliniken und Therapieeinrichtungen richten sich mit Gesprächs- und Hilfsangeboten fast ausschließlich an die Mutter und den Vater, selten sehen sie die mit betroffenen Geschwister. Dabei haben diese durchaus Bedarf an Unterstützung.
„Außen vor und doch mittendrin“ heißt eine der ersten Studien, die in Deutschland die Situation von Geschwistern psychisch Erkrankter beschreibt. Die Psychologin Rita Schmid von der Universität Regensburg und ihre Kollegen bezeichnen Geschwister in der Untersuchung von 2004 gar als „vergessene Angehörige“: „Therapeutische Entscheidungen werden in der Regel ohne ihre Einschätzung und Meinung getroffen, obgleich sie den Erkrankten und seinen Erkrankungsverlauf häufig am längsten kennen“, schreiben die Studienautoren. Nicht zuletzt würden solche Entscheidungen oftmals auch Einfluss auf das Leben des gesunden Geschwisters haben.
Von Behandlern missachtet
Eine Untersuchung aus Österreich mit dem Titel „Zu Unrecht vernachlässigt“bestätigt den Befund. Während acht von zehn Eltern von an Schizophrenie Erkrankten zu Angehörigengruppen in einem psychiatrischen Klinikum eingeladen wurden, erhielten nur vier von zehn Geschwistern diese Einladung. Dabei seien die Geschwister eine „subjektiv stark belastete Gruppe“, die stärker beachtet werden sollte, betonten die Studienautoren.
Auch Reinhard Peukert, emeritierter Professor und noch immer Forscher auf dem Gebiet der Gemeindepsychiatrie, will die Rolle von Geschwistern stärken. Er kennt das Problem aus eigener Erfahrung: Als junger Erwachsener erkrankte sein Bruder an Schizophrenie. Jahrelang stand Peukert ihm zur Seite und begleitete ihn. „Es gab viele traurige und bedrückende Erlebnisse, dennoch war es für mich ein enormer Gewinn, sein Bruder zu sein“, sagt Peukert. Die Krankheit habe seine Interessen und sogar seine Berufswahl stark beeinflusst.
Der Bruder nahm sich Jahre später das Leben. Bis heute lässt Peukert das Thema nicht los. Er begleitet seit Jahrzehnten Forschungsprojekte, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. In seinen Untersuchungen berichtet er von Geschwistern, die sich mitunter nicht nur übersehen, sondern von den Behandlern in Kliniken regelrecht missachtet fühlen.
Auch Christopher hat noch nie mit einem Behandler seines Bruders gesprochen, obwohl dieser bereits mehrfach in Kliniken war. Er wäre aber durchaus bereit dazu. Er wirkt zwar oft nur wie ein stiller Beobachter, doch für den kranken Bruder ist er eine wichtige Stütze.
Eine gesunde Stimme mehr im Raum
„Die Geschwister in Behandlungsgesprächen dabei zu haben, ist für alle Beteiligten ein Gewinn“, sagt der Psychologe Thomas Bock vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Gespräche würden nicht wie vielleicht vermutet komplizierter, sondern leichter. „Geschwister katalysieren“, sagt Bock. „Durch sie hat man eine gesunde Stimme mehr im Raum, die deutlich macht, was die üblichen Konflikte der Familie sind, und was durch die Krankheit hinzukommt.“
Zwischen den Geschwistern zeige sich in solchen Familiengesprächen zudem oftmals wertvolle Solidarität und Einvernehmen. Meist lädt Bock zu einem weiteren Gespräch nur den Patienten und sein Geschwister ein: „Diese Gespräche sind oft aufbauend und entlastend – für beide Seiten.“
Die Gesundheitswissenschaftlerin Jacqueline Sin von der University of London geht daher noch einen Schritt weiter. Sie ist davon überzeugt, dass eine organisierte Unterstützung der Geschwister auch den Betroffenen hilft und fordert deshalb eine Art psychologischen Lehrgang für Geschwister.
Erschöpft oder depressiv durch Krankheit des anderen
Reinhard Peukert will vor allem, dass Geschwister Rückhalt bekommen. Zu diesem Zweck hat er ein Geschwisternetzwerk gegründet, das auch ein Online-Selbsthilfeforum anbietet. „Wir wollen die Erfahrungen von Geschwistern stärker ans Licht der Öffentlichkeit und ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen“, erklärt er. Auch sollen mehr Selbsthilfegruppen aus dem Netzwerk hervorgehen, denn bislang gibt es davon bundesweit nur eine Handvoll.
Viele betroffene Geschwister brauchen dringend Gespräche und Austausch, denn die Erkrankung des anderen bringt auch die eigene seelische Verfassung ins Wanken, wie eine weitere Studie der Regensburger Psychologin Rita Schmidoffenbart: Zwei von drei Menschen leiden demnach unter seelischen Problemen, wenn der Bruder oder die Schwester psychisch erkrankt. Viele litten unter Schlafstörungen, seien erschöpft, oder depressiv verstimmt.
Die Gründe sind vielfältig: Je nachdem, wie intensiv die Beziehung ist, verlieren Geschwister mitunter einen wichtigen Lebensgefährten. Sie haben Angst um den anderen, manchmal schämen sie sich oder werden wütend. Bei vielen sitzt der Schock tief.
Drei von vier psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr, also in Kindheit, Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter. Die Geschwister sind häufig in einem ähnlichen Alter, in dem sich die Folgen der Krankheit meist stark ausprägen. Besonders junge Geschwister brauchen Erklärungen dafür, was mit ihrem Bruder oder der Schwester geschieht. Gerade junge Kinder suchen die Schuld auch bei sich. War ich zu forsch beim Spielen mit dem Bruder? Hab ich die Schwester zu sehr geärgert?
Ältere Geschwister hingegen fühlen sich oftmals aus einem anderen Grund schuldig: weil sie gesund sind. Forscher sprechen von der sogenannten Überlebensschuld, weil dieses Gefühl mitunter auftritt, wenn Menschen Unfälle oder Katastrophen überleben, bei denen andere gestorben sind. Sie fragen sich: Warum meine Schwester, warum mein Bruder, warum nicht ich?
Christopher war gut informiert, als sein Bruder erkrankte, er hatte selbst Psychologie studiert. Die seelische Notlage des Bruders konnte er daher sofort erkennen – und richtig handeln.
Quelle: www.spiegel.de vom 16.02.2019