Ein Schulpsychologe für knapp 7000 Schüler – das ist der mickrige Schnitt in Deutschland. Eine ausreichende Unterstützung von Kindern, Eltern und Lehrkräften ist da kaum möglich. Und in einigen Bundesländern ist es noch schlimmer.
Das Dezernat „Schulpsychologie“ residiert in einem modernen, schmucklosen Bürokomplex am Lüneburger Bahnhof. Weiße Raufasertapete, eine Fensterfront mit Blick auf einen Parkplatz. Der frische Kaffee ist inzwischen kalt geworden, so lange braucht Achim Aschenbach, um seine ganzen Aufgaben als Schulpsychologe zu erklären.
Aschenbach ist Ansprechpartner für Eltern und Kindern mit Schulproblemen, die von schlechten Noten bis zu Schulangst reichen. Er bildet Lehrkräfte fort und berät Schulen. Und er ist Teil eines niedersächsischen Notfallteams, das gerufen wird, wenn Schüler plötzlich versterben oder ein schwerer Unfall eine gesamte Schule aus ihrem Trott reißt.
Auch die Supervision für Sozialarbeiter und die Ausbildung von Beratungslehrern fallen in seinen Aufgabenbereich. „Jeder von uns ist für einen Teil von Niedersachsen zuständig. In unserer Region sind wir viel unterwegs und unterstützen die Schulen und Pädagogen vor Ort. Zusätzlich sind wir für Beratungen und Sprechstunden im Büro erreichbar“, erklärt Achim Aschenbach.
Mehr als Mangelverwaltung kaum möglich
Eine beeindruckende Aufgabenvielfalt – denn in Niedersachsen ist ein Schulpsychologe für etwa 15.000 Schüler und 1000 Lehrkräfte zuständig. Das geht aus den aktuellen Zahlen des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hervor. Im Bundesschnitt sind es „nur“ rund 7000 Schülerinnen und Schüler und etwa 450 Lehrkräfte.
Einzig in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen ist die Quote mit etwa 1 zu 4500 etwas besser. Zum Vergleich: In Dänemark betreut ein Schulpsychologe etwa 800 Schüler. Mehr als Mangelverwaltung ist in Deutschland deshalb kaum möglich, an eine langfristige Begleitung von verhaltensauffälligen Kindern oder gestressten Lehrkräften ist kaum zu denken.
Schulen, Lehrkräfte und Eltern spüren den Mangel deutlich. Erstgespräche finden zwar innerhalb weniger Tage statt. Ein schnelles Eingreifen ist aber nur in sehr dringlichen Fällen möglich – Mobbing, Gewalt, Schulvermeidung oder eine Suizidandrohung. Wer mit Fragen rund um schlechte Noten, Lernschwierigkeiten oder einer Schullaufbahnberatung auf die Schulpsychologen zukommt, muss Geduld mitbringen.
Wartezeiten von mehreren Wochen oder gar Monaten sind keine Seltenheit. Gleiches gilt auch für Schulen auf der Suche nach Fortbildungen und Beratung. „Umso größer ist die Verantwortung der schuleigenen Hilfsangebote, Sozialpädagogen, Vertrauenslehrern, das offene Ohr des Klassenlehrers“, erklärt Kirsten Schuchardt. Als Forscher am Institut für Psychologie an der Uni Hildesheim ist sie für die Weiterbildung von Beratungslehrkräften zuständig.
Gerade bei „kleineren“ Problemen wie Schulstress, Streitigkeiten unter Schülern oder Prüfungsängsten sind die Beratungslehrer immer häufiger gefragt. Gleichzeitig können und dürfen diese Beratungsangebote keine Ausrede für zu wenige Schulpsychologen sein. „Es gibt genug Fälle, in denen die Pädagogen vor Ort an ihre Grenzen stoßen – schweren Formen von Mobbing, sexueller Gewalt oder Suizidandrohungen. Hier ist die psychologische Unterstützung dringend nötig“, sagt Schuchardt. Dazu komme, dass längst nicht alle Schulen ausreichend mit Sozialpädagogen und Beratungslehrern ausgestattet sind.
Der Mangel an Schulpsychologen bedeutet natürlich nicht automatisch, dass Kinder und Jugendliche im Ernstfall ohne psychologische Unterstützung dastehen. Schließlich gibt es auch noch andere Anlaufstellen und Hilfsangebote – Therapeuten, Psychiater oder Beratungsstellen für Gewalt.
Doch die Zahl der Probleme, die die Unterstützung durch Schulpsychologen nötig macht, hat an den Schulen stark zugenommen. „Es gibt grundlegende Probleme, die Schule schon lange beschäftigen – Schulangst, Gewalt oder auch Mobbing. Verändert haben sich aber die Rahmenbedingungen und die Intensität“, bestätigt Achim Aschenbach.
So sorgt die Digitalisierung für mehr Fälle von Cybermobbing oder Spielsucht. Auch der Umgang mit Kindern mit traumatischen Fluchterfahrungen oder verschiedenen Formen von Behinderung stellen die Lehrer vor neue Herausforderungen. Dazu komme der hohe Erwartungsdruck innerhalb des Bildungssystems.
Immer mehr Lehrkräfte, aber auch Schüler fühlen sich gestresst, überfordert und hadern mit den Rahmenbedingungen von Schulen. Das Thema „Psychische Gesundheit“ gehört längst mit zum Aufgabenbereich der Schulpsychologen. Therapeutische Aufgaben innerhalb der Schulen übernehmen sie allerdings nicht. Stattdessen arbeiten sie „systemisch“.
Was das konkret bedeutet, erklärt Cornelia Heinz von der Landesstelle Schulpsychologie und schulpsychologisches Krisenmanagement Nordrhein-Westfalen: „Wenn ein Schüler kurz vor dem Abschluss mit extremer Prüfungsangst zu mir kommt, ist es meine Aufgabe, nach schulischen Lösungen zu suchen und ihn zu stabilisieren.“ Wenn Depressionen im Spiel sind, verweist die Psychologin an Therapeuten.
Auch in der Schule arbeiten Heinz und ihre Kollegen eher im Hintergrund. Sie sprechen mit Lehrkräften und Eltern, klären auf oder helfen bei der Entwicklung von Präventionskonzepten. „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautet die Strategie – aus gutem Grund, wie die Psychologin erklärt: „Bei einem Mobbing-Fall bringt es wenig, wenn ich mich für einen Vortrag vor die Schüler stelle. Die Pädagogen vor Ort kennen die Klasse und ihre Sozialstruktur viel besser. Diese Beziehungsebene ist wichtig, um eine Lösung für das Problem zu finden.“
Kaum Ressourcen für Prävention
Dazu kommt: Schulpsychologen fehlen schlicht die Ressourcen, um einen solchen Prozess länger zu begleiten. Oftmals bleibt es deshalb bei allgemeinen Fortbildungen zu Strategien gegen Mobbing, Wegen für ein besseres Schulklima oder der Burnout-Prävention. Ihre Umsetzung ist am Ende die Aufgabe der Pädagogen vor Ort.
„Es geht nicht darum, auch noch therapeutische und beraterische Verantwortung auf die Lehrkräfte abzuwälzen. Sie sollten aber offen auf Schüler zugehen, Gesprächsangebote machen und sich eben Hilfe holen, wenn sie spüren, dass es nicht stimmt“, sagt Cornelia Heinz. Der geschulte Blick auf die Schülerschaft ist für die tägliche Arbeit der Schulpsychologen immens wichtig. Ohne aufmerksame Pädagogen vor Ort würden sie von den meisten Fällen nichts erfahren. Und ohne das Engagement einzelner Schulen wäre eine Präventionsarbeit überhaupt nicht möglich.
Aus Sicht von Kirsten Schuchardt ist das keine Dauerlösung. „Es braucht mehr Stellen für Sozialarbeiter und Schulpsychologen, um schneller reagieren zu können, um näher an den Schulen zu sein“, erklärt die Forscherin der Uni Hildesheim.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht immerhin: In Nordrhein-Westfalen sollen Cornelia Heinz und ihre Kollegen bald mehr Unterstützung bekommen. Die Landesregierung diskutiert zurzeit über die Schaffung von 100 neuen Stellen für Schulpsychologen.
Der Sinneswandel kommt nicht ganz freiwillig. Nach dem Anstieg von Gewaltdelikten an Schulen in den vergangenen beiden Jahren war der Handlungsdruck auf die Landesregierung deutlich gewachsen.
Quelle: www.spiegel.de vom 16.07.2019