„Hikikomori“ (Rückzug) ist ein japanischer Begriff, der Menschen beschreibt, die sich für viele Monate oder Jahre in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer zurückziehen und zu anderen Menschen – außer ihrer Familie – den Kontakt meiden.
Das Phänomen wurde in den letzten Jahren in vielen Artikeln in den Mainstream-Medien beschrieben. Bisher ist es aber noch nicht gut erforscht und Psychologen rätseln über dieses Phänomen.
Die Erkrankung wurde erstmals in Japan beschrieben, seitdem wurde jedoch auch über Fälle in anderen Ländern berichtet, die weit voneinander entfernt liegen, wie in Oman, in Indien, in den USA und in Brasilien. Niemand weiß, wie viele „Hikikomori“ es gibt (der Begriff bezieht sich sowohl auf den Zustand als auch auf die Personen, die damit zu tun haben), aber Umfragen zufolge erfüllen 1,79% der Japaner im Alter von 15 bis 39 Jahren die Kriterien. Obwohl es einige Theorien zu Risikofaktoren gibt, die größtenteils auf Berichten von Einzelfällen beruhen, mangelte es an populationsbasierter Forschung. Eine aktuelle Studie, die in „Frontiers in Psychiatry“ veröffentlicht wurde, schließt nun einige Wissenslücken.
Roseline Yong und Kyoko Nomura analysierten Umfragedaten von 3.287 männlichen und weiblichen Teilnehmern im Alter von 15 bis 39 Jahren, die zufällig aus 200 verschiedenen Stadt- und Vorortgemeinden in ganz Japan ausgewählt wurden und einen Querschnitt der japanischen Gesellschaft repräsentierten.
Die Teilnehmer beantworteten Fragen wie, wie oft sie ihr Zuhause verlassen hätten (und für diejenigen, die dies nicht taten, wie lange sie zuhause geblieben wären). Die Forscher stuften diejenigen als Hikikomori ein, die in den letzten sechs Monaten ihre Wohnung nicht oder nur selten verlassen haben, es sei denn, sie hatten einen praktischen Grund für ihren Aufenthalt, z. B. schwanger zu sein, als Hausfrau/mann überwiegend mit Hausarbeiten beschäftigt zu sein oder aufgrund einer Schizophrenie mehr zuhause zu bleiben. Die Befragten beantworteten auch demografische Fragen und Fragen zu ihrer psychischen Gesundheit.
Es wurde vermutet, dass Hikikomori in erster Linie ein städtisches Phänomen ist. Aber das konnten Yong und Nomura nicht bestätigen. Basierend auf den Umfragedaten waren 1,8% der Befragten Hikikomori, aber die Betroffenen waren ähnlich häufig im Dorf wie in einer Großstadt ansässig. Die bisherige Annahme, dass die Erkrankung häufiger bei Männern anzutreffen ist, konnte in diese Studie mit epidemiologischen Daten belegen. Dennoch waren 20 der 58 „Hikikomori“ in der Studie weiblich.
Yong und Nomura fanden keine Beziehung zur Region des Landes, zur Anzahl der Familienmitglieder oder zur sozialen Schicht. Eine lokale demografische Variable erwies sich jedoch als schützend: das Leben in einem Gebiet voller Unternehmen und Geschäfte.
Die Hikikomori in der Stichprobe hatten häufig eine psychiatrische Behandlung in ihrer Vorgeschichte, hatten oft die Schule abgebrochen und neigten zu Gewalt gegen sich selbst (z. B. Selbstverletzung), aber nicht gegen andere. Der wichtigste und stärkste Faktor war jedoch ein hohes Maß an zwischenmenschlichen Schwierigkeiten. Dies zeigte sich bei den häufig angekreuzten Angaben, wie: „Ich habe Angst, Leute zu treffen, die ich kenne“, „Ich bin besorgt darüber, was andere über mich denken könnten“ und „ich kann mich nicht in Gruppen einordnen“.
Yong und Nomura schreiben: „Diese Ängste können mit einem Gefühl der Demütigung zusammenhängen, das darauf hindeutet, dass sie Angst haben, in ihrer aktuellen Situation gesehen zu werden. […] Im Gegensatz zu Ängsten, die bei sozialen Phobien auftreten […] zeigen unsere Auswertungen, dass Hikikomori ihnen bekannte Menschen und Gruppen fürchten.“
Dies legt einen möglichen Weg zur Behandlung nahe: „Durch sorgfältige Analyse der Art der Ängste, die sie haben könnten, legen unsere Daten nahe, dass die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten und eine veränderte Erwartungshaltung bei der Bekämpfung von Hikikomori hilfreich sein könnten.“ Sie stellen fest, dass diese Art von Strategie bereits mit einigem Erfolg versucht worden war.
Aber wenn diese Ängste die Menschen in ihren Häusern halten, was veranlasst sie dann überhaupt erst, sich dorthin zurückzuziehen? Die Umfrage ergab auch, dass Hikikomori mit größerer Wahrscheinlichkeit die High School oder die Universität abgebrochen haben. Vielleicht kann die Suche nach Wegen, wie junge Menschen ihre Ausbildung fortsetzen können, das Risiko verringern.
Die Daten zeigten auch, dass ein sehr hoher Prozentsatz (37,9%) der Hikikomori in der Vergangenheit in psychiatrischer Behandlung gewesen war. „Der große Anteil von Hikikomori, die auf Medikamente angewiesen sind, ist ebenfalls alarmierend“, fügen die Forscher hinzu.
Wie all diese Faktoren als Ursachen oder vielleicht Ergebnisse von Hikikomori in Wechselwirkung stehen können, ist alles andere als klar. Wie die Forscher betonen, sind eindeutig weitere Studien erforderlich. Diese neue Arbeit liefert jedoch einige gute Hinweise, auf was sich zukünftige Untersuchungen besonders konzentrieren sollten.
Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de vom 24.06.2019