Schwerpunkt

Verhaltenstherapie

Entstehung und Entwicklung

Der Begriff „Verhaltenstherapie“ entstand in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals begannen Theoretiker und Praktiker (unabhängig voneinander in England, USA und Südafrika), die Erkenntnisse psychologischer Verhaltens- und Lerntheorien für die Erklärung bzw. Behandlung psychischer Probleme zu nutzen. Begünstigt wurde dies durch rasante Fortschritte der gesamten Psychologie zur damaligen Zeit: So wurden viele Konzepte und therapeutische Methoden entwickelt, die wesentlich zielgerichteter, kürzer, effektiver und weniger spekulativ waren als im damals vorherrschenden Ansatz der Psychoanalyse. Und so ist in der Gründungsphase der Verhaltenstherapie manches auch als „Gegenprogramm“ zur psychoanalytisch-tiefenpsychologischen Therapie zu verstehen, die als Teil der Medizin bis heute eine ärztliche Domäne darstellt. Demgegenüber baute die Verhaltenstherapie von Anfang an auf den Erkenntnissen und Regeln der wissenschaftlichen Psychologie auf. Dort geht es um beobachtbares Verhalten, klar formulierte, von anderen nachprüfbare Theorien, Maßnahmen mit nachgewiesener Wirkung und ein wirtschaftliches Vorgehen („mit möglichst geringen Mitteln möglichst große Effekte erzielen“).

Seit ihren Anfängen hat sich die Verhaltenstherapie ständig weiterentwickelt. Sehr früh schon (in den 60er Jahren) wurde von verhaltenstherapeutischen Praktikern die – aus der Tradition des „Behaviorismus“ stammende – Beschränkung auf äußerlich sichtbares Verhalten aufgegeben: Gedanken/Einstellungen, äußeres Verhalten, Gefühle sowie biologisch-körperliche Abläufe des Organismus – also alle Ebenen des menschlichen Erlebens und Verhaltens – finden jetzt Berücksichtigung. Später wurde die Erkenntnis, dass wirksame Techniken in ein schlüssiges Gesamtkonzept und vor allem eine positive Therapeut/Patient-Beziehung eingebettet sein müssen, in entsprechende Anleitungen zur Gestaltung des Therapieprozesses integriert: Auf der Basis einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung, welche die (notwendige, aber nicht schon alleine ausreichende) Grundvoraussetzung jeder erfolgreichen Therapie darstellt, kommen seither erprobte Konzepte des Problemlosem für die Therapieplanung zum Einsatz.

Bedingt durch vermehrte Forschungsanstrengungen und das Bekanntwerden immer neuer positiver Behandlungsresultate bei vielen klinischen Krankheitsbildern wurde die Verhaltenstherapie auch als Psychotherapie-Richtung im Rahmen der Krankenkassen interessant. Aushängeschilder für die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischen Vorgehens sind die Behandlung von Ängsten, Zwängen, Depressionen, sozialer Unsicherheit, Kontakt- oder Kommunikationsproblemen, psychosomatischen Krankheiten, Schlaflosigkeit, Schmerzen, Süchten/Abhängigkeiten, Essstörungen, Partnerschaftsproblemen, Sexualproblemen, Stressbewältigung, Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, Erziehung allgemein, Elterntrainings, Arbeit mit schizophrenen Personen und deren Angehörigen. Dementsprechend ist die Verhaltenstherapie in den 80er Jahren in Deutschland zu einem anerkannten „Richtlinienverfahren“ geworden.

Spätestens zu Beginn der 90er Jahre setzte sich dann die Auffassung von Verhaltenstherapie als „Anleitung zum Selbstmanagement“ durch. Von manchen als „humanistische Form der Verhaltenstherapie“ bezeichnet folgt diese Variante dem Bild des nach Autonomie und Selbstverantwortung strebenden Menschen. Der Therapeut übernimmt dabei die Rolle eines professionellen Helfers, der seine Patienten auf ihrem Weg in ein besseres Leben begleitet. Dabei geht es nicht nur um Reduktion der Beschwerden, sondern um das Lernen bestimmter Fähigkeiten und um die grundsätzliche Befähigung zu Selbststeuerung und Selbstmanagement. Für eine solche Selbstregulation ist es unabdingbar, dass Patienten besser über ihre Ziele, Stärken und Schwächen Bescheid wissen und sich relativ früh in der Therapie mit solchen Aspekten beschäftigen.

Was kennzeichnet die Verhaltenstherapie heute?

Der wichtigste Grundgedanke ist nach wie vor, dass menschliches Verhalten im Laufe des bisherigen Lebens erlernt wird.

„Menschliches Verhalten ist in wesentlichen Zügen gelernt, kann also auch ver-, um- oder neu gelernt werden“ Credo der Verhaltenstherapie (Reinecker, 1999, S. 88).

Dementsprechend kann es (falls nötig) wieder verlernt oder zum Positiven korrigiert werden. Dies gilt gleichermaßen für „normales“ wie für „problematisches“ Verhalten, für Gedanken genauso wie für Gefühle oder körperliche Reaktionen. Auch können viele bislang fehlenden Fähigkeiten neu dazugelernt werden, oder Menschen lernen mit Hilfe der Verhaltenstherapie andere/bessere Verhaltensweisen, um mit Problemsituationen zurecht zu kommen. Und selbst wenn in bestimmten Situationen keine Veränderung möglich sein sollte, kann immer noch ein besserer Umgang mit dieser „Tatsache“ gelernt werden.

Die heutige Verhaltenstherapie stellt das Ziel der Selbststeuerung von Menschen an oberste Stelle. Sie versucht, Hilfen zur Lebensgestaltung zu vermitteln und die Autonomie und Selbstverantwortung zu fördern, bis der Patient vom Therapeuten wieder unabhängig wird und dann kein „Patient“ mehr ist.

Wenn Personen sich für eine Therapie entschieden haben, geht es allerdings zunächst einmal um die aktive Bewältigung von aktuellen Problemen. Deren Wurzeln können zwar in der persönlichen Lebensgeschichte weit zurückliegen; jedoch müssen Personen heute lernen, mit den Schwierigkeiten umzugehen und andere (am besten korrigierende positive) Erfahrungen zu machen. Ein weiteres Ziel der VT liegt darin, Patienten zu helfen, künftige Probleme vorab zu erkennen und sich auf absehbare Schwierigkeiten rechtzeitig und aktiv vorzubereiten. In all diesen Fällen helfen Fertigkeiten zum Analysieren und Lösen von Problemen, und folgerichtig besteht ein übergeordnetes Lernziel der Verhaltenstherapie darin, Patienten solche Fertigkeiten beizubringen.

Egal, ob es sich um vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Probleme handelt – ein therapeutischer Lern- und Veränderungsprozess zielt im Prinzip immer darauf ab, vom derzeitigen unbefriedigenden IST-Zustand zu einem besseren SOLL-Zustand zu gelangen …. Jedes Problem wird als Chance verstanden, etwas zum Besseren zu verändern, und dementsprechend lautet die Leitfrage für Patienten: „Was kann/muss/möchte ich ab heute für ein künftiges besseres Leben lernen?“ Dazu wenden die Beteiligten ein systematisches Problemlösen an: Der Verhaltenstherapeut kennt die Schritte des optimalen Vorgehens und begleitet seine Patienten damit auf ihrem Weg. Dabei kommen im Verlauf der Therapie viele wirksame Standardmethoden und Einzeltechniken zum Einsatz. Mit deren Hilfe kann der Patient mit den kritischen Situationen seines Alltags besser umgehen, seine Ziele effektiver verfolgen, andere Lösungen finden und auch neue Herausforderungen im Leben meistern.

Eine vertrauensvolle Beziehung und eine gute Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Patient sind natürlich die Grundlage jedes Therapieerfolgs. Durch die starke Konzentration der VT auf aktuelle Probleme und die Frage: „Was kann ich ab heute lernen, damit es mir bald besser geht?“ ergibt sich in der Regel eine deutlich kürzere Therapiedauer. Denn das Ziel ist nicht vollständige „Heilung“ oder Freisein von sämtlichen Beschwerden; vielmehr sollen Patienten einen Grad subjektiven Wohlbefindens erreichen, der sie zufrieden stellt und der auch von der jeweiligen sozialen Umgebung akzeptiert werden kann.

In gewisser Weise verkörpert die Verhaltenstherapie eine „vorsichtig-optimistische“ Lebenshaltung, denn sie fördert neues Lernen und Veränderungen in jedem Lebensalter und nutzt dazu systematisch alle Strategien und Methoden, die sich sowohl in der Praxis als auch in der Forschung als zielführend erwiesen haben. Dazu gehört auch das Erkennen, Nutzen und Fördern persönlicher Stärken und Talente. Und so ist es für viele Patienten überraschend, wie viele positive Qualitäten sie bei sich entdecken, sobald sie darin unterstützt werden.

Die psychologische Grundorientierung und das Bevorzugen erfahrungswissenschaftlich fundierter Konzepte, Ergebnisse und Maßnahmen gehören weiterhin zu den Säulen des verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Diese Nähe zu wissenschaftlichen Befunden ist aber nur Mittel zum Zweck: Sie bringt für die Patienten den Vorteil mit sich, dass sie immer nach dem aktuellen „Stand der Zunft“ behandelt werden.

Sechs wichtige Kennzeichen der heutigen Verhaltenstherapie

Oberstes Ziel: Anleitung zum „Selbstmanagement“ 

  • Grundlage: Bild des nach Selbstregulation, Autonomie, Eigenverantwortung strebenden Menschen 
  • Wichtigstes Instrument: Vermittlung von Fertigkeiten zur Lebensgestaltung und zum Analysieren und Lösen von Problemen 
  • Patienten arbeiten und entscheiden mit, es ist ihre Therapie, es geht um ihre Ziele in ihrem Leben 
  • Die Therapie verläuft transparent und für die Patienten nachvollziehbar 
  • Fokus: Tatsächliches Leben „draußen“

Umfassender Verhaltensbegriff 

  • Sowohl äußerlich beobachtbares Verhalten als auch innere Vorgänge wie Gedanken, Gefühle und biologisch-körperliche Reaktionen sind wichtig 
  • Immer wirken biologische, psychische und soziale Faktoren zusammen (bio-psycho-soziales Modell)

Möglichst große Nähe zur Wissenschaft 

  • Alle Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Erkenntnisse der psychologischen Grundlagenforschung sind bedeutsam 
  • Es werden bewährte/fundierte Konzepte und nachweislich wirksame Vorgehensweisen angewandt 
  • Die Arbeit der Therapeuten steht in Einklang mit dem aktuellen Stand ihrer „Zunft“ 
  • Klare, konkrete Beschreibungen aller Vorgänge helfen bei der Erfolgskontrolle (Evaluation)

Therapie als aktiver Lern- und Veränderungsprozess 

  • Was erlernt ist, kann auch verlernt werden; auch Neu- oder Umlernen ist möglich 
  • Lernen durch aktives Handeln am Problem (erfahrungsorientiertes Lernen, oft wirksamer als Lernen durch Einsicht) 
  • Verbesserungen kommen durch systematische Veränderungen zustande 
  • Optimale Gestaltung der Therapie durch ein Modell des Problemlösens in Schritten 
  • Ergebnisorientiertes Vorgehen (Beobachten der Entwicklungen/Fortschritte; dann je nach Resultat: Weiter so oder Weg ändern?)

Vertrauensvolle Therapeut/Patient-Beziehung 

  • Eine gute Arbeitsbeziehung ist das notwendige (aber nicht schon ausreichende) Fundament der Therapie

Rolle der Therapeuten

  • Die Therapeuten sind Änderungsassistenten, Problemlösebegleiter und Vermittler von Fähigkeiten, geben Informationen, Anregungen und Anstöße (ohne die Probleme abzunehmen oder sie stellvertretend zu lösen) 
  • Die Therapeuten bieten anfangs viel Verständnis, Unterstützung und Führung; im Zuge der therapeutischen Fortschritte übergeben sie zunehmend ihren Patienten die Initiative und Verantwortung

Die Verhaltenstherapie ist ein vergleichsweise „junges“ therapeutisches Verfahren mit vielen Vorzügen. Sie ist besonders für Personen geeignet, die bei ihren derzeitigenSchwierigkeiten vorankommen möchten und Wert darauf legen, dass der Therapeut aktuellen Behandlungsstandards folgt und effektive Methoden in einem nachvollziehbaren Therapiekonzept einsetzt. Wenn sie dann noch die Therapie als ihr eigenes Veränderungsprojekt begreifen und – mit Anregung/Unterstützung des Therapeuten – aktiv mitarbeiten, gibt es gute Aussichten auf dauerhaften Erfolg.

aus: Frederick H. Kanfer & Dieter Schmelzer (2001). Wegweiser Verhaltenstherapie. Psychotherapie als Chance (S. 24-31). Berlin: Springer.